Interview

»Jede Handlung ist verboten, die das Leben abkürzt«

Arzt und Autor: Henri Goldstein Foto: Leif Tuxen

Nach einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes vom 25. Juni wird in Deutschland erneut das Thema Sterbehilfe diskutiert. Wie ist die jüdische Position dazu?
Nach streng orthodoxer Auffassung darf man das Leben nicht vorzeitig beenden. Allerdings sagt die Halacha auch, dass man Menschen nicht leiden lassen darf. Deswegen geht es hier letzten Endes darum, welcher Frage man größere Bedeutung beimisst – der Autonomie des Patienten oder der Heiligkeit des Lebens.

Der Talmud sagt, ein Sterbender sei in jeder Hinsicht wie ein Lebender zu betrachten. Schließt das nicht die Sterbehilfe kategorisch aus?
Die Halacha gebraucht bisweilen sehr kompromisslose Formulierungen, aber bei ihrer Auslegung versucht man immer, auf die spezifischen Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen. Laut Halacha ist es zum Beispiel untersagt, eine Herz-Lungen-Maschine abzuschalten, es sei denn, sie wird nicht kontinuierlich angewandt.

Kann es in Ausnahmefällen nicht auch ein Akt der Gnade sein, zum Beispiel die künstliche Ernährung unheilbar Kranker einzustellen?
Obwohl ich mich als orthodox ansehe, denke ich oft: Warum sollten wir alles der Halacha anpassen statt dem Individuum? Das Judentum hat keinen Papst, weder in Rom noch in Jerusalem. In der jüdischen Welt schaut man zwar auf Israel, aber Ausgangspunkt für halachische Entscheidungen sind Oslo, Kopenhagen, Stockholm oder London. Jeder einfache Rabbiner kann Entscheidungen entsprechend seiner eigenen halachischen Interpretation treffen.

Welche Möglichkeiten gibt es, Leiden und Todeskampf abzukürzen?
In der westlichen Welt akzeptieren wir, dass wir mit schmerzstillenden Mitteln Menschen schmerzfrei halten können, sogar, wenn das mit sich führt, dass das Leben ein wenig verkürzt wird. Es entspricht nicht der jüdischen Auffassung, Schmerz und Leiden aktiv zu verlängern. Gleichzeitig ist jede Handlung verboten, die das Leben abkürzt. Schmerzstillende Medizin zu verabreichen kann jedoch nur zum Ziel haben, Leiden zu stoppen, nicht das Leben.

Gibt es unterschiedliche Ansichten im orthodoxen, liberalen und reformierten Judentum?
Das hängt vom Rabbiner ab. Fragt man einen Reformrabbiner, kann man unter Umständen die gleiche Antwort wie von einem orthodoxen Rabbiner erhalten – oder die entgegengesetzte.

Was sagt das Judentum über den endgültigen Moment, wann ist der Tod eingetreten?
Überwiegend geht man beim Todeszeitpunkt vom Atemstillstand aus, das heißt, wenn der Atem als eigenständige Funktion unumkehrbar aussetzt. Deshalb akzeptiert man auch – ausgehend von dieser Definition – Transplantationen, zum Beispiel des Herzen. Ich kenne aber auch Rabbiner, die die alte Auffassung vom Herztod befürworten.

Mit dem dänischen Arzt und Autor sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

Zerbst

Schmähplastik erhält Gegendenkmal

Die Kirchengemeinde Zerbst will der judenfeindlichen Hassbotschaft eine Botschaft der Toleranz entgegensetzen

 25.05.2023

Umfrage

Wie verbringen eine Rabbinerin und eine Rebbetzin das Fest?

Wir haben sie gefragt

 25.05.2023

Schawuot

Das zeitlose Gesetz

Warum die Tora sich von anderen Rechtsschriften grundsätzlich unterscheidet

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.05.2023

Talmudisches

Milch und Honig

Warum es Brauch ist, an Schawuot Milchprodukte und Honig zu essen

von Noemi Berger  25.05.2023

Schawuot

Zentralisierter Kult

Am Wochenfest mussten alle Israeliten nach Jerusalem hinaufziehen, um ihre Opfergaben im Tempel darzubringen

von Rabbiner Walter Rothschild  25.05.2023

Vordenker

Moral und Dilemma

Leo Baeck war während der NS-Zeit oberster Vertreter der deutschen Juden. Seine Rolle brachte ihn in Zwangslagen. Doch blieb der Rabbiner moralische Instanz und Leitfigur - und Symbol eines Neuanfangs

von Verena Schmitt-Roschmann  23.05.2023

Statistik

Alle sind gemeint

Was die biblische Zählung der Israeliten mit den jüdischen Gemeinden heute zu tun hat

von Rabbiner Andreas Nachama  19.05.2023

Talmudisches

Wunder in der Gegenwart

Was eine Hochzeit mit der Spaltung des Schilfmeers gemeinsam hat

von Yizhak Ahren  19.05.2023

Erklärung

Barmherzigkeit kennt viele Formen

Die Tora zählt 13 Attribute der Barmherzigkeit auf. Was symbolisieren sie – und was hat das mit dem Davidstern zu tun?

von Vyacheslav Dobrovych  19.05.2023