Talmudisches

Geduld zahlt sich aus

Erziehung muss dem Kind die Möglichkeit geben, gemäß seinem Wesen zu wachsen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Im Traktat Eruvin (54b) erzählt der Talmud eine Geschichte, die sich gut auf unsere Zeit übertragen lässt. Sie handelt von einem geduldigen Lehrer und seinem etwas begriffsstutzigen Schüler. Der Lehrer hieß Rabbi Perida und war ein großer Gelehrter. Er pflegte mit seinem Schüler das Gelernte 400-mal zu wiederholen, ehe der Schüler es verstand.

Einmal rief man den Rabbi zu einer Mizwa, als er gerade mit seinem Schüler lernte. Der Rabbi hatte wie gewohnt schon 400-mal das Gelernte mit seinem Schüler wiederholt, und doch konnte dieser das, wie gewohnt, nicht verstehen. Da sagte Rabbi Perida zu ihm: »Wie kommt es, dass du jetzt weniger kannst als ein andermal, obwohl ich schon 400-mal mit dir gelernt habe?« Der Schüler sagte: »Von dem Moment an, als man euch zu der Mizwa rief, habe ich mich nicht mehr konzentrieren können, denn ich dachte, gleich wird der Rabbi gehen.«

himmel Da sagte Rabbi Perida: »Mein Sohn, ich will es noch weitere 400 Male mit dir durchgehen.« Und er lernte weiter mit dem Schüler, bis er es konnte. Die Geschichte endet damit, dass eine Stimme vom Himmel ertönte und Rabbi Perida fragte, was ihm lieber wäre: noch 400 Jahre zu leben oder, dass er und seine Generation gleich ins Paradies kämen. Er zog es vor, mit seiner Generation gleich ins Paradies zu kommen.

Erziehung muss dem Kind die Möglichkeit geben, gemäß seiner Wesensart zu wachsen.

Und welche Antwort ertönte daraufhin vom Himmel? »Gebt dem Zaddik beides: das Paradies und noch 400 Jahre zu leben.« So reich wurde Rabbi Perida für seine Geduld mit dem Schüler belohnt.

Natürlich erscheint uns die Summe der 400 Wiederholungen übertrieben und nicht realistisch. In welcher Schule, mit welchem Lehrer kann es so etwas tatsächlich geben? Und doch ist die Geschichte lehrreich: Denn Rabbi Perida behandelte seinen Schüler entsprechend dessen Persönlichkeit. Er passte sich ihm an, gab nicht auf und wurde nicht zornig, wenn der Junge das Gelernte nicht so schnell verstand.

Der große Lehrer Rabbi Schlomo Wolbe (1914–2004) schreibt in seinem Buch Säen und Bauen in der Erziehung, dass kein Kind und folglich kein Schüler dem anderen gleicht. Demzufolge hätten Eltern und Lehrer den Auftrag, die persönlichen Eigenschaften ihres Kindes zu ergründen und das Kind zu akzeptieren.

Wesen Will man ein Kind erziehen, so muss man dessen Wesen betrachten und die Erziehung darauf gründen. Es ist kontraproduktiv, dem Kind Fähigkeiten zu unterstellen, die es nicht besitzt, denn dann werden die Mühe und die Erziehung, die man in das Kind investiert, umsonst sein, da man das Individuum außer Acht lässt.

In Mischlej 22,6 heißt es: »Erziehe den Jungen gemäß seiner Art, dann wird er, auch wenn er alt ist, nicht davon abweichen.« Es heißt also, das Kind gemäß seinem individuellen Wesen zu erziehen und es nicht zu etwas zu zwingen, das diesem entgegensteht. Rabbi Wolbe betont, dass man destruktiv handelt, wenn man von seinem Kind etwas verlangt, was gegen dessen Natur geht, denn es ist einem Menschen fast unmöglich, seine angeborenen Eigenschaften zu durchbrechen.

Eigenschaften Erziehung muss vielmehr dem Kind die Möglichkeit geben, gemäß seiner Wesensart zu wachsen. Dementsprechend muss Erziehung gute Verhaltensweisen und gute Eigenschaften beim Kind weiter ausbauen. Dabei ist es hilfreich, geduldig zu sein, sowohl mit den eigenen Kindern als auch mit Schülern – und vor allem vorsichtig zu sein mit den eigenen Ansprüchen an das Kind.

Neben der Geschichte von Rabbi Perida und den 400 Wiederholungen gibt es ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie man bei einem Schüler individuell vorgeht. So verfasste Rabbi Acha eigens für seinen Sohn und ungeachtet des immensen Zeitaufwands die Scheiltot, die halachischen Aspekte aus den fünf Büchern Mose. Der Sohn lernte und verstand. Dies machte für den Vater jeden noch so großen Aufwand wieder wett.

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024