Standpunkt

Freiheit, die wir meinen

Maske schützt: Indem wir uns beschränken, schaffen wir Raum für das Leben der anderen. Foto: Getty Images

Vor dem Bundesverfassungsgericht haben auch Politiker einer Partei, die das Wort »Freie« im Namen führt, gegen die Einschränkungen der Freiheit im Namen ihrer selbst definierten Freiheit geklagt.

Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts war eindeutig: Einschränkungen der persönlichen oder wirtschaftlichen Freiheit sind bei einer die Allgemeinheit bedrohenden Gefahrenlage mit den grundgesetzlich verbrieften Freiheitsrechten vereinbar. Dass auf diese Debatte auch finstere Gesellen aufspringen, sollte nicht dazu führen, dass man den Diskurs über die Freiheit nicht auch aus jüdischer Perspektive führt.

hebräisch Wie sieht Freiheit aus jüdischer Sicht aus? Zwei Begriffe finden sich in der Bibel: »Cherut«, Freiheit in Verantwortung, und »Chofesch«, ungebundene Freiheit; im Hebräischen zwei sehr unterschiedliche Begriffe – in der deutschen Übersetzung mit ähnlicher Bedeutung.

Wie sieht Freiheit aus jüdischer Sicht aus? Zwei Begriffe finden sich in der Bibel: »Cherut«, Freiheit in Verantwortung, und »Chofesch«, ungebundene Freiheit.

Es war vor sieben Monaten am ersten Tag Chol Hamoed Pessach, als ich in der Mittagszeit aus dem Hangar des von den Nationalsozialisten erbauten Flughafens Tempelhof kam. In mir ein mehrfaches Gefühl der Freiheit: Pessach, die Befreiung aus Mizrajim – wo immer Mizrajim für uns heute liegt und was immer Mizrajim in unseren Tagen bedeuten mag.

Aus der bedrückenden Dritte-Reich-Architektur in das Licht des fast unendlich wirkenden Flugfeldes: Mit der ersten Impfung gegen die damals aktiven Viren der Pandemie kam ein Stück Freiheit, ein Versprechen, nach der zweiten Impfung weitestgehend geschützt zu sein. Vor meinem geistigen Auge die glücklichen Gesichter der Holocaust-Überlebenden und Displaced Persons, die von gleicher Stelle zu Beginn der Blockade 1948 mit den leeren alliierten Flugzeugen gen Westen ausgeflogen wurden.

plagen Vor meinem inneren Auge auch die alliierten Flugzeuge, die die Wehrmachts­elite am 8. Mai 1945 nach Berlin flogen, damit sie die bedingungslose, sprich: totale, Kapitulation Nazi-Deutschlands in Berlin-Karlshorst unterzeichne. Tag der Befreiung nach unendlich vielen Plagen – »Cherut« – Befreiung. Und ich höre das Zitat aus der Haggada vom Vorabend-Pessach: »Hozi anu me’awdut L’cherut«; »ER hat uns herausgeführt aus der Knechtschaft in die Freiheit«.

Mit Freiheitsversprechen ist es so wie mit Türen: Bevor man sie öffnet, freut man sich auf den Raum, der dahinterliegt. Freilich hat der Raum auch wieder neue Türen, die geöffnet werden wollen … erste Impfung – neue Tür, zweite Impfung – neue Tür …

Wer seine Freiheit auf Kosten anderer lebt, zerstört Leben und damit Welten.

Cherut – Freiheit: Was bedeutet Freiheit? Für Juden könnte es bedeuten: die Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen – »Leben und Tod lege ich vor dich, Segen und Fluch, du aber wähle das Leben«. Nicht blinder Glauben oder Kadavergehorsam leiten uns; wir wählen das Leben und sind Freie; und aus dem Gebot des zu Tuenden wird eine Mizwa – eine Selbstverpflichtung, um sich einem gottgefälligen Leben anzunähern.

mizwot Die 613 Mizwot – 365 positive, 248 einschränkende Verpflichtungen – machen den Unterschied: zwischen Rücksichts­losigkeit oder Egoismus einerseits und einer sozialen Gesellschaft. Dass es darunter auch solche gibt, die sich nicht auf unsere Zeit beziehen, sondern zum Beispiel auf den Tempeldienst, belegt nur, dass es sich jeweils um eine individuelle Entscheidung handelt: »Alles wird von Gott geschaut, aber dem Menschen ist die freie Wahl gelassen« (Pirkej Awot 3,15).

Der Auszug aus Mizrajim führte zunächst zum Berg Sinai. Wie die Rabbiner sagen, währte die anarchische Freiheit nach der Knechtschaft nur 49 Tage – bis Schawuot, dem Siebenwochenfest. Und dann heißt es: »Die Tafeln waren ein Werk Gottes und die Schrift eine Gottesschrift, eingegraben (charut) auf die Tafeln« (2. Buch Mose 32,16). Im Talmud Pirkej Awot 6,2 heißt es weiter, man lese nicht »charut«, sondern »cherut« – also »Freiheit«, denn ein Freier ist nur der, der sich mit Tora befasst. In anderen Worten: mit den für ein Zusammenleben dringend notwendigen Regeln der Freiheit – wie nicht morden, nicht stehlen et cetera.

Es gibt aber auch eine Freiheit von allen Verpflichtungen.

Es gibt aber auch eine Freiheit von allen Verpflichtungen. Im 2. Buch der Chronik 15,5 geht der aussätzige König in ein »Haus der Freiheit« – BeBejt haChofschit. Dort ist er von allen Verpflichtungen frei. Freilich ist er auch allein – getrennt von seiner Gesellschaft. Biblisch gesehen ist also absolute Freiheit völlige Einsamkeit.

verschiedenheit Aber wir leben glücklicherweise nicht auf einer einsamen Insel oder in einem solchen Haus der Freiheit, sondern mit anderen, solchen, die wir lieben, und auch solchen, die wir in ihrer Verschiedenheit respektieren. Am Ende ist es so wie mit dem jüdischen Weg der Mizwot: Indem wir uns beschränken, schaffen wir Raum für das Leben der anderen und für uns selbst.

Ja, ich hatte und ich habe Angst, mich selbst zu infizieren, aber noch viel größer ist meine Sorge, ich könnte andere anstecken. Anfangs gab es FFP2-Masken mit einer Luftdüse. Diese Masken schützen den Träger perfekt, aber durch die Düse kommt ungefilterte Luft von innen nach außen, das heißt, sie bieten keinen Schutz für mein Gegenüber, für den anderen Menschen neben mir.

Also machen sie keinen Sinn, denn nur »wer ein Leben rettet, rettet eine ganze Welt«, heißt es. Und wer seine Freiheit auf Kosten anderer lebt, zerstört Leben und damit Welten. Alle Beschränkungen, die wir jetzt auf uns nehmen, beinhalten eine doppelte Freiheit: Sie schützen uns, und sie schützen zugleich andere.

Der Autor ist Historiker, Publizist und Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

Schemot

Augenmaß des Anführers

Mosche lehrt uns, dass Barmherzigkeit nicht absolut sein darf

von Rabbiner Avichai Apel  17.01.2025

Talmudisches

Intimität

Was unsere Weisen über den Respekt gegenüber der Privatsphäre eines Ehepaars lehrten

von Rabbiner Avraham Radbil  17.01.2025

Perspektive

Toda raba!

Glücklich wird, wer dankbar ist. Das wussten schon die alten Rabbiner – und dies bestätigen auch moderne Studien

von Daniel Neumann  17.01.2025

Berlin

Chabad braucht größere Synagoge

»Wir hoffen auch auf die Unterstützung des Senats«, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 15.01.2025

Ethik

Eigenständig handeln

Unsere Verstorbenen können ein Vorbild sein, an dem wir uns orientieren. Doch Entscheidungen müssen wir selbst treffen – und verantworten

von Rabbinerin Yael Deusel  10.01.2025

Talmudisches

Greise und Gelehrte

Was unsere Weisen über das Alter lehrten

von Yizhak Ahren  10.01.2025

Zauberwürfel

Knobeln am Ruhetag?

Der beliebte Rubikʼs Cube ist 50 Jahre alt geworden – und hat sogar rabbinische Debatten ausgelöst

von Rabbiner Dovid Gernetz  09.01.2025

Geschichte

Das Mysterium des 9. Tewet

Im Monat nach Chanukka gab es ursprünglich mehr als nur einen Trauertag. Seine Herkunft ist bis heute ungeklärt

von Rabbiner Avraham Radbil  09.01.2025

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025