Herr Oberrabbiner Goldschmidt, heute beginnt in Antwerpen die Generalversammlung der Europäischen Rabbinerkonferenz. Ein Thema wird auch der zunehmende Judenhass in Europa sein – und der Umgang damit. Wie bewerten Sie die Lage der Juden in Europa?
Turbulent. Ganz Europa geht durch schwere Turbulenzen, und die Lage der jüdischen Gemeinschaft ist von der allgemeinen Lage in Europa abhängig. Die Wahlen werden zeigen, inwieweit sich Europa neu erfinden kann – oder ob es noch schwächer wird. Eine Prognose habe ich nicht.
Was sind die wichtigsten Anliegen von Juden in der EU?
Sicherheit, Toleranz und Religionsfreiheit.
Und was kann mit Blick auf diese drei Punkte getan werden, damit Juden hier gut leben können?
Viele Politiker sagen, dass ein Europa ohne Juden kein Europa ist. Auf der anderen Seite werden Gesetze verabschiedet, die das Leben der Juden erschweren, wie das Schächtverbot, das die Regionalparlamente in Belgien beschlossen haben. Außerdem ist der Antisemitismus wieder salonfähig geworden, auch in verschiedenen Parteien.
Was erwarten Sie vom künftigen EU-Parlament, und wie können die jüdische Gemeinschaft und die Europäische Rabbinerkonferenz handeln?
Wir wollen, dass Versuche, Gesetze gegen die jüdische Religion zu verabschieden, gestoppt werden. Ich beziehe mich konkret auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, wonach Fleisch nach einer religiösen Schlachtung ohne Betäubung der Tiere nicht das EU-Bio-Siegel tragen darf. Das Urteil war nicht koscher. Ein anderer Punkt: Der Rassismus, der heute in verschiedenen Parteien existiert, und Fremdenfeindlichkeit sollen unterbunden werden. Beides kann sehr gefährlich werden, wie wir zuletzt bei dem Anschlag auf die Moscheen in Neuseeland gesehen haben. Das passiert nicht in einem Vakuum, sondern es gibt eine Ideologie dahinter.
Haben Sie Sorge, dass so etwas auch in Europa passieren kann?
Ja, ich bin sehr besorgt. Deshalb ist eines der größten Probleme heute die Sicherheit der Synagogen. Um das Risiko zu minimieren, muss gegen den offenen Rassismus einiger Politiker vorgegangen werden. Und man muss die Sicherheit der Gotteshäuser organisieren und auch staatlich finanzieren. Eine große Verantwortung bei der Eindämmung von Hassreden tragen die sozialen Medien. Darüber hinaus machen mir die Rechtspopulisten Sorge.
Kürzlich kündigte der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber für den Fall, dass er EU-Kommissionspräsident wird, einen sogenannten Pakt gegen Antisemitismus an. Wissen Sie, wie dieser Pakt aussehen soll, und könnte er etwas bewirken?
Manfred Webers Initiative begrüße ich sehr. Der Pakt müsste unter anderem beinhalten: Sicherheit der jüdischen Gemeinden, Toleranz, proaktive Maßnahmen gegen Antisemitismus und die Aufhebung von Gesetzen, die sich gegen das Judentum richten.
In einer Umfrage sagten 85 Prozent der Juden in der EU, dass Antisemitismus das wichtigste Problem für sie sei. Wo ist dieses Problem besonders groß? Jüngst gab es Übergriffe in Frankreich ...
Frankreich ist das heißeste Pflaster in Europa. Die Gemeinden sind in den letzten 15 Jahren viel kleiner geworden, die Emigration hat zugenommen.
Von welcher Seite kommt der Antisemitismus in Europa vor allem?
Es gibt verschiedene Quellen: den radikalen Islamismus, der sich aber nicht nur gegen jüdische Einrichtungen, sondern zum Beispiel auch gegen Weihnachtsmärkte wie in Berlin und Straßburg richtet. Dann gibt es noch den radikalen Rechtspopulismus und offen antisemitische Parteien wie Jobbik in Ungarn. Und wir haben die extreme Linke, die Judenhass und Antisemitismus hinter Antizionismus versteckt, zum Beispiel in der Labour-Partei in Großbritannien oder bei den Gelbwesten in Frankreich.
Wo steht aus Ihrer Sicht Deutschland, was Antisemitismus und seine Bekämpfung angeht?
Man kann nie hundertprozentig zufrieden sein. Wir sind aber sehr zufrieden, dass die deutschen Behörden mit Felix Klein einen Antisemitismusbeauftragten ernannt haben. Die Behörden kümmern sich auch sehr um die Sicherheit der jüdischen Gemeinden. Jedoch denken wir, dass der Antisemitismus noch nicht besiegt ist.
In Deutschland wird darüber diskutiert, ob jeder Schüler verpflichtend eine KZ-Gedenkstätte besuchen sollte. Das ist umstritten. Was denken Sie?
Eines der größten Probleme in Europa ist, dass man vergisst, was vor 74 Jahren passiert ist. Die letzten Opfer und Täter der Nazi-Zeit verschwinden. Es ist äußerst wichtig, dass die Jugend in ganz Europa und speziell in Deutschland – auch die Jugend, die neu eingewandert ist – weiß, worin Hassreden und Rassismus münden können. Ich denke, solche Besuche können Jugendlichen helfen zu verstehen, dass politische Aussagen und auch Aussagen zu Hause am Küchentisch am Ende doch unsere Welt verändern können. Aber man sollte in diese Überlegungen auch die Elternhäuser einschließen.
Sie sprechen auch Migranten an, die nach Europa kommen. Wie ist Ihre Haltung allgemein zur Einwanderung in Europa?
Bei über 60 Millionen Flüchtlingen weltweit ist Einwanderung nach Europa heute eine nicht mehr umzukehrende Tatsache. Es ist eine moralische Frage: Wo fängt die Verpflichtung an, Flüchtlinge aufzunehmen, und wo hört sie auf? Eine andere Frage ist, wie weit akzeptierte Flüchtlinge integriert werden. Die Integration von Flüchtlingen ist heute eine der größten Aufgaben in Europa.
Gelingt die Integration aus Ihrer Sicht gut?
Es gibt Länder, die sehr erfolgreich waren. In anderen Ländern waren Flüchtlinge lange in Ghettos isoliert. Das führt dazu, dass die nächste Generation nicht integriert ist. Unzufriedenheit kann Probleme für die Sicherheit Europas mit sich bringen. Unsere Position zur Flüchtlingsfrage und zur Integration ist, glaube ich, identisch mit der des Heiligen Stuhls. Insgesamt sehen wir die katholische Kirche, speziell in Deutschland, als Verbündete in unserer gemeinsamen Arbeit zur Zukunft Europas.
Mit dem Präsidenten der Europäischen Rabbinerkonferenz sprach Leticia Witte.