Psychologie

Die Macht der Gedanken

Rodins »Le Penseur«: Meine Gedanken beeinflussen meine Gefühle und mein Verhalten und umgekehrt. Foto: picture-alliance / akg-images

Psychologie

Die Macht der Gedanken

Schon die Tora wusste, dass sich das Hören auf die Gefühle und damit auf das Handeln auswirkt

von Shimon Lang  05.02.2018 18:51 Uhr

Na’ase Venischma – Wir wollen tun und hören» (2. Buch Mose 24,7). Dieses Motto, nach dem die Kinder Israels die Tora auf sich nahmen, spiegelt die bedingungslose Akzeptanz des jüdischen Volkes gegenüber Gott wider.

In vielen traditionellen Kommentaren wird die Reihenfolge betont: Zuerst nahm das Volk Israel die Gebote an, und erst danach hörte es sie. Man akzeptierte also Gottes Tora, bevor man den vollständigen Inhalt überhaupt kannte. Auffallend ist, dass die Wendung Na’ase Venischma erst in diesem Wochenabschnitt auftaucht und nicht schon im vorigen, wo die Übergabe der Zehn Gebote beschrieben wird.

Vers Großbritanniens früherer Oberrabbiner Jonathan Sacks erklärt diese Diskrepanz damit, dass es in unserem Vers (24,7) bereits das dritte Mal ist, dass die Kinder Israels erklären, die Tora anzunehmen: Das ers­te Mal taten sie es im 2. Buch Mo­se 19,8 («Das ganze Volk antwortete einstimmig und sprach: Alles, was Gott gesprochen hat, wollen wir tun») und das zweite Mal im 2. Buch Mo­se 24,3 (« Da antwortete das Volk einstimmig und sprach: Alle die Worte, die Gott gesprochen hat, wollen wir vollbringen»).

Diese beiden Verse betonen die Einstimmigkeit und das Kollektiv – im Gegensatz zu dem Vers mit Na’ase Venischma, der vollständig lautet: «Er (Mosche) nahm das Buch des Bundes und las es dem Volk vor. Da sprachen sie: Alles, was Gott gesprochen, wollen wir tun und hören.» Keine Betonung des Kollektivs oder einer gemeinschaftlichen Akzeptanz. Warum dieser Un­terschied?

Die ersten beiden Verse beschränken sich aufs «Tun», auf das Ausführen der Gebote. Das jüdische Volk strebt nur im Bereich der Halacha, im Tun, den Konsens an. Im Verstehen des Judentums hin­gegen ist die Individualität ab­solut notwendig und elemen­tar.

Jeder Mensch kann, beziehungsweise muss, Gott und das Judentum auf seine Weise entdecken: Manche finden Gott in den Schriften, andere in persönlichen Lebensgeschichten. Einige begegnen ihm in der Natur oder, wie Albert Einstein, in der Physik, andere in der Musik oder in sonstigen Werken. Die Liste ist endlos. Überall kann Gott gefunden oder auch seine Existenz bestritten werden. Die Entscheidung obliegt jedem Einzelnen – unabhängig von seiner Biografie, seinen Genen oder seinem Umfeld.

Tefillin Ein ähnliches Prinzip findet man bei den Tefillin, den Gebetsriemen. Sie bestehen aus den Tefillin schel Jad, die um den Arm gebunden werden, und den Tefillin schel Rosch, die man am Kopf trägt.

In beiden Tefillin sind dieselben vier Toraabschnitte auf Pergament niedergeschrieben. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied: Bei den Gebetsriemen am Arm ist es eine einzige längere Pergamentrolle, auf der alle vier Toraabschnitte geschrieben stehen. Bei den Tefillin schel Rosch hingegen ist das Gehäuse in vier Fächer unterteilt, die je eine Pergamentrolle mit einem der Toraabschnitte enthalten.

Diese unterschiedliche Konstellation entspricht dem oben erwähnten Gedanken: Die Tefillin am Arm, die das Tun, das Ausführen der Gebote, symbolisieren, sind einheitlich. Das Geistige und Kognitive hingegen soll vielschichtig und bei jedem anders sein – daher die vier Abteilungen in den Tefillin am Kopf.

Verhaltenstherapie In der Psycholo­gie wird im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie von einer Wechselwirkung folgender drei Komponenten gesprochen: Gedanken, Gefühle und Verhalten. Meine Gedanken beeinflussen meine Gefühle und mein Verhalten und umgekehrt.

Der Psychotherapeut Albert Ellis (1913–2007) entwickelte Mitte des vergangenen Jahrhunderts das sogenannte «ABC-Modell» (Activating Events, Beliefs and Consequences). Es besagt, dass abhängig davon, wie ich ein Ereignis bewerte, dieses mein darauffolgendes Gefühl beeinflusst, was wiederum Konsequenzen für mein Verhalten hat.

Zwei Personen können das gleiche erleben, es aber unterschiedlich bewerten und demzufolge unterschiedlich handeln. Zum Beispiel können zwei Menschen eine Absage für ein Treffen erhalten. Der eine bewertet es mit «Er mag mich nicht», was Trauergefühle auslösen kann, die wiederum zum Rückzug führen können. Der andere bewertet es als «Er hatte keine Zeit», was keine negative Konsequenz nach sich ziehen wird.

Ein anderes Beispiel wäre, dass jemand im Bett liegt und Geräusche am Fenster wahrnimmt. Wertet er dieses Geräusch als potenziellen Einbruch, wird er vermutlich nervös oder gar panisch werden und möglicherweise die Polizei rufen. Wird das Geräusch hingegen als Ast eines Baumes wahrgenommen, der ans Fenster schlägt, werden die oben erwähnten Gefühle höchstwahrscheinlich nicht ausgelöst, und die Person kann beruhigt weiterschlafen.

Gebot Die Blaupause dieses Ansatzes liegt möglicherweise in den Worten Na’ase Venischma. Tun und Hören sollen nicht voneinander getrennt, sondern als Erweiterung oder Bereicherung betrachtet werden. Aufgrund des Hörens verändert sich das Tun. Wie ich die Gebote verstehe, wie ich die Hintergründe, wie ich den göttlichen Teil in meiner Wahrnehmung im Gebot sehe und wie ich es zu «Meinem» machen kann, wirkt sich auf meine Gefühle und letztlich auf mein Handeln aus.

Bedingt durch das Hören verändert sich das Tun. Dies ist die höhere Stufe des Tuns und verlangt mehr als das bloße Minimum, die Gesetze emotionslos und routinemäßig zu befolgen.

Schabbat Eine Geschichte soll diesen Gedanken verdeutlichen. Ein Ehepaar hat einen berühmten Rabbiner am Schabbat zum Essen eingeladen. Es wurde vereinbart, dass er nach dem Gebet gemeinsam mit dem Gastgeber nach Hause geht.

Dort angekommen, stellt der Gastgeber fest, dass seine Frau es versäumt hat, den Schabbattisch zu decken. Um von seiner Schuld abzulenken, beschuldigt und beleidigt der Gastgeber seine Frau in Anwesenheit des Gastes: «Du hast uns blamiert, wir haben Besuch hier, und nichts ist gerichtet; nicht einmal die Challa-Decke (womit man die Schabbatbrote bedeckt) hast du hervorgeholt.»

Der Gast, der berühmte Rabbiner, war unangenehm berührt von der Szene und dachte im Stillen: Man bedeckt die Challot, um sie vor dem Wein, der vorher getrunken wird, «nicht zu beschämen». Wie kann es dann in Ordnung sein, die eigene Ehefrau zu beschämen? Hätte sich der Gastgeber das Nischma zu eigen gemacht, hätte er es wohl verstanden, das Na’ase anders zu befolgen.

Der Autor hat an Jeschiwot in Jerusalem und in Eng­land studiert. Seit einigen Jahren arbeitet er als Psychologe in Osnabrück.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18

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