Tischa beAw

Die längste Schiwa

Warum wir auch nach mehr als 1900 Jahren noch immer über die Zerstörung des Tempels trauern

von Rabbiner Raphael Evers  29.07.2020 17:43 Uhr Aktualisiert

»Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem«: Ausschnitt aus einem Ölgemälde von Francesco Hayez (1867) Foto: picture-alliance / AKG

Warum wir auch nach mehr als 1900 Jahren noch immer über die Zerstörung des Tempels trauern

von Rabbiner Raphael Evers  29.07.2020 17:43 Uhr Aktualisiert

Unsere Verbindung zu Israel wird durch die Corona-Pandemie schwer gestört. Israel ist nahezu hermetisch abgeriegelt. Ich habe meine Enkelkinder seit fast sechs Monaten nicht mehr gesehen. Wie hängt dieses Gefühl des Abgeschnittenseins von unseren jüdischen Wurzeln mit Tischa beAw zusammen – dem Trauertag, der in diesem Jahr am Abend des 29. Juli beginnt?

Verlust Besonders in der Diaspora vergessen wir oft die Geschichte von Tischa beAw, unserem nationalen Tag der Trauer um den Verlust des spirituellen Zentrums Israels – des Tempels von Jerusalem. An diesem Tag gedenken wir sowohl der Zerstörung des Ersten als auch des Zweien jüdischen Tempels.

Trauer drückt unsere Gefühle der Verbundenheit mit dem Land Israel aus.

Aber das Elend begann schon in der Wüste, bei dem Vorfall der Spione, kurz vor dem Eindringen in das jüdische Land. Der Auftrag an die Spione endete in einem Drama, nach dem die Juden 40 Jahre warten mussten, bevor sie ihren Traum von einer eigenen Heimat verwirklichen konnten.
Vor einem Monat haben wir den Wochenabschnitt »Schelach Lecha« mit der Geschichte von den Spionen gelesen.

Als sie von ihrer Mission zurückkehrten, waren sie alles andere als positiv gestimmt. »Das Land ist wunderschön«, sagten sie, »aber die Menschen sind zu stark, die Städte zu mächtig – wir fühlten uns in ihren Augen wie Insekten, sie müssen uns so gesehen haben.«

An der Grenze zu Israel, kurz vor dem Abschluss ihrer Reise in die Freiheit, wurden die Menschen von einer Welle der Nostalgie erfasst. Sie wollten nicht länger nach vorn schauen, sondern blickten, voller Furcht vor dem Unbekannten, durch eine rosarote Brille auf eine Vergangenheit, die in Wirklichkeit alles andere als schön war. Sie schienen die Unterdrückung vergessen zu haben. Sie versteinerten am Rande des Unbekannten. Die Spione sagten: »Wir sind besser dran in der Wüste. Es ist sinnlos, nach Israel zu gehen.«

Tränen Der Talmud (Ta’anit 29a) erzählt: »Das ganze Volk hat in dieser Nacht sehr laut geweint, als die Spione zurückkehrten.« Rabba sagte im Namen von Rabbi Jochanan: »Es war der 9. Aw, Tischa beAw, und G’tt sagte zu ihnen: ›Jetzt weinst du umsonst, aber Ich bestimme einen Grund zu weinen für alle Geschlechter.‹«

G’tt sagte zum jüdischen Volk: »Ihr sehnt euch ohne Grund nach einer falschen Vergangenheit und weigert euch, die Möglichkeiten vor euch zu sehen. Erinnert euch an diesen Moment! Eines Tages werdet ihr echten Grund haben, traurig zurückzublicken – wenn der Tempel zerstört und das jüdische Volk ins Exil gegangen ist, wenn ihr alles verloren habt.«
Oft geben wir uns dem Gefühl hin: »Früher war alles besser.« Es ist zugegebenermaßen schwierig, sich einer ungewissen Zukunft zu stellen. Aber diejenigen, die es nicht wagen, sich der Konfrontation zu stellen, werden nicht viel erreichen.

Hoffnung Das Judentum wäre schon damals kein Judentum gewesen, wenn es nicht auch nach der Katastrophe, dem Verlust des Heiligtums, wieder einen Hoffnungsschimmer gegeben hätte. Kurz nach der Zerstörung des Zweiten Tempels liefen vier Männer schweigend durch die Ruinen Jerusalems. Es waren die Rabbiner Gamliel, Eleazar ben Azaria, Jehoschua und Rabbi Akiwa.

Aus ihren Gesichtern sprach große Traurigkeit. Sie waren verzweifelt über die Verwüstung, die G’tt zugelassen hatte. Plötzlich tauchte ein Rudel Füchse vor ihren Füßen auf. Drei der vier Gelehrten beklagten sich lautstark: »Oh, dass Jirmejahus Wort so wahr sein musste: Füchse laufen auf dem zerstörten Berg Zion umher« (Echa 5,18).

Während alle bitterlich weinten, musste Rabbi Akiwa lächeln. Verwundert rief Rabbiner Gamliel ihm zu: »Wie kannst du über den Anblick der Katastrophe, die unser Volk heimgesucht hat, lachen? Du lächelst, wenn du Jirmejahus Prophezeiung buchstäblich erfüllt siehst und Füchse herumschleichen, wo einst G’ttes Altar stand?«

Während alle bitterlich weinten, musste Rabbi Akiwa lächeln.

Aber Rabbi Akiwa antwortete: »Verstehst du nicht, warum ich mich freue? Wenn die Unglücksprophezeiungen so genau erfüllt wurden, dann werden sich eines Tages auch die guten Vorhersagen erfüllen.«

Wir leben in einer paradoxen Zeit. Nach dem Sechstagekrieg 1967 steht die Stadt Jerusalem nach fast 2000 Jahren wieder unter unserer Verwaltung. Jerusalem ist wieder unser nationales religiöses Zentrum geworden, aber andererseits fühlen wir uns an unserem heiligsten Ort, dem Tempelberg, auch heute noch bedroht. Und den Beit HaMikdasch, den Tempel, gibt es nicht mehr.

Auch in religiöser Hinsicht leben wir in widersprüchlichen Verhältnissen. Uns ist es nicht erlaubt, unseren heiligsten Ort zu betreten, weil wir immer noch unrein sind.

Andererseits aber lautet das Gebot aus 2. Buch Mose 25,8: »We’assu li mikdasch« – »Sie sollen Mir machen ein Heiligtum«. Nach Maimonides, dem Rambam (1135–1204), ist der Wiederaufbau des Tempels noch immer eine Mizwa.

Generationen Über Generationen hinweg wurden mehrere Versuche unternommen, den Tempel wiederaufzubauen. So wollte Kaiser Julian im Jahr 363 den Tempel wiedererrichten, doch er starb, und so wurde der Wiederaufbau für lange Zeit verschoben.

Der Tempel ist nicht nur ein Ort des Opferdienstes, sondern auch ein zentraler Ort des gesamten jüdischen Volkes und wird es im messianischen Zeitalter für alle Völker sein.

Es bleibt die Frage, warum der Tempel vor mehr als 1900 Jahren zerstört wurde. Im Talmud gibt Rabbi Jocha-nan die Antwort darauf. Durch Kamza und Bar-Kamza wurde Jerusalem zerstört.
Es war einmal ein Mann, der ein großes Fest geben wollte. Sein Freund hieß Kamza, während Bar-Kamza sein eingeschworener Feind war. Der Mann befahl seinem Diener, Kamza einzuladen, doch der Diener machte einen Fehler und lud Bar-Kamza ein.

GASTGEBER Als der Gastgeber Bar-Kamza unter den Gästen sah, entbrannte er in großer Wut. Bar-Kamza musste hinaus! Bar-Kamza flehte seinen Gastgeber an, ihn nicht zu beschämen, und bot ihm sogar an, das ganze Fest zu bezahlen. Doch sein Erzfeind war unnachgiebig, und er wurde von dem Fest verwiesen.

Trauern ist die Kehrseite der Liebe.

Bar-Kamza sann auf Rache und sagte sich: »Große Gelehrte saßen an der Tafel, und niemand ist für mich eingetreten. Ich werde dem römischen Kaiser mitteilen, dass die Juden einen Aufstand planen. Meine Rache wird süß sein.«

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Die römischen Legionen erhoben sich gegen Jerusalem, steckten den Tempel in Brand, und die fast 2000 Jahre dauernde Diaspora begann. Es war unbegründeter Hass, der diese große Tragödie auslöste, die das Ende der Unabhängigkeit Israels markierte und die Juden über die ganze Welt verstreute.

HEILIGTUM Rabbi Chaim von Woloschin (1749–1821), Anfang des 19. Jahrhunderts der oberste Vertreter der litauischen Orthodoxie, geht tiefer auf die Frage ein, warum wir noch heute – fast 2000 Jahre später – um den Verlust unseres Nationalheiligtums trauern.

Trauern ist die Kehrseite der Liebe. Im zwischenmenschlichen Bereich sitzen wir Schiwa über den Verlust eines geliebten Menschen. Trauer bedeutet, dass wir mit jemandem verbunden waren.

Kummer drückt unsere Gefühle der Verbundenheit mit einer anderen Person aus. Die Trauer um den Verlust eines Menschen dauert jedoch nur ein Jahr. Danach schwillt sie langsam ab, und der Verlust wird Teil des Lebens.

Es war grundloser Hass, der zur Zerstörung und zum Verlust des Heiligtums führte.

Bis zum Wiederaufbau des Tempels sitzen wir jedoch Schiwa um den Verlust des Heiligtums, das einst das Zentrum unserer geistigen Inspiration war und Jerusalem seinen besonderen Status verlieh.

Der Verlust des Tempels ist nur das Ende trauriger Ereignisse. Das Heiligtum hatte seine Funktion verloren, weil das Judentum nicht mehr in den Herzen der Menschen lebte.

Die Geschichte von Kamza und Bar-Kamza stellt keine historische Beschreibung einer Kette von Ereignissen dar, die einer Beziehung von Ursache und Wirkung von Kriegshandlungen bis zum Fall Jerusalems entsprächen. Die wahre Ursache lag in den schlechten Beziehungen zwischen den Juden selbst, und deshalb trauern wir auch heute noch.

Am Ende der Kinot (Klagelieder) singen wir die sogenannten Zioniden, Lieder, in denen wir unsere Sehnsucht nach Zion zum Ausdruck bringen. Mögen wir kommendes Jahr einander im wiederaufgebauten Jerusalem treffen. Amen!

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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