Regeln

Das richtige Maß

Lineal und Winkelmesser: Das richtige Maß ist in vielen Lebensbereichen entscheidend. Foto: Thinkstock

Es geht um Leben und Tod in dieser Parascha, auf mehreren Ebenen. Und es geht um das richtige Maß von Nähe und Distanz. Bereits die ersten Worte gemahnen an das Schicksal von Nadav und Avihu, die sich dem Ewigen in unerlaubter Weise näherten. War es Leichtfertigkeit? War es Absicht? War es die physische Art des sich Näherns, oder hatten sie nicht die richtige innere Einstellung?

Darüber können wir nur Vermutungen anstellen – Vermutungen, die im Wochenabschnitt Acharej Mot neue Nahrung erhalten, denn dieser Abschnitt enthält drei ganz unterschiedliche Aspekte, die nur scheinbar nicht zueinander gehören.

Tempel Zunächst erfahren wir, wie man sich dem Ewigen körperlich nähern konnte, damals, als das Heiligtum noch stand, ob als Ohel Mo’ed oder als fest gebauter Tempel. Es konnte nicht zu jeder Zeit geschehen, und es konnte auch nicht jeder Beliebige einfach so in das Innere des Heiligtums hineinspazieren, wie es ihm gerade gefiel. Das Betreten des Heiligtums diente einem festen g’ttesdienstlichen Zweck, und es erforderte die Einhaltung bestimmter Regeln. Ob wir auch heute manchmal daran denken, solche Grundregeln zu beachten – wenn wir zum Beispiel als Touristen Häuser des Gebets anderer Länder oder anderer Religionen betreten und uns dort benehmen wie in einem Museum?

Wir erfahren in unserem Wochenabschnitt aber auch, wie wir uns zu allen Zeiten, unabhängig von einem zentralen jüdischen Heiligtum, immer wieder im Geist dem Ewigen nähern können, in der Absicht von Teschuwa, unter dem Aspekt von Schuld und Sühne. Sehr genau ist das Ritual von Jom Kippur beschrieben, wie es seinerzeit durchgeführt wurde. Aber auch ohne Opfertiere und Hohenpriester ist es uns möglich, jederzeit – und ganz bestimmt an Jom Kippur – zum Ewigen zurückzukehren, Ihm wieder ganz nahezukommen, in der rechten Kawana, im aufrichtigen Wunsch, des Ewigen Gebote zu befolgen.

Tiere Nähe und Distanz zwischen dem Schöpfer und den Menschen also – und was ist mit den anderen Geschöpfen des Ewigen? Sind nicht auch die Tiere Seine Geschöpfe, und sollten im Umgang mit ihnen nicht ebenso feste Regeln gelten? Der zweite Abschnitt von Acharej Mot ist fast ein Schock für alle, die keine Vegetarier sind: Hier wird das Schlachten von Nutztieren für den Verzehr von Fleisch mit Mord verglichen. Mit Mord? Hat uns der Ewige nicht nach der großen Flut erlaubt, Fleisch zu essen? Das hat Er wohl; aber Er hat es an bestimmte Bedingungen geknüpft. Eine der wichtigsten wird hier genannt, nämlich das Verbot von Blutgenuss.

Nach damaliger Auffassung war das Blut eines Lebewesens der Sitz seines Seins, seines ureigenen Lebensgeistes. Einem Tier das Leben zu nehmen und sich überdies noch dessen Blut, dessen Lebensgeist also, einzuverleiben, kommt dem ultimativen Extrem von allzu großer, vernichtender Nähe gleich. Zudem darf man diese Tiere, die der Ewige geschaffen hat, keinem Götzen oder Dämon opfern. Auch der Bock, der die Verfehlungen des Volkes an Jom Kippur in die Wüste, zu Asasel trägt, wird ja nicht geopfert, sondern er wird weggebracht, fortgeschafft aus der Nähe des Ewigen, und damit auch aus der Mitte der Gemeinschaft um den Ewigen.

Sexualität Den Abschluss unserer Parascha bildet ein Kapitel über erlaubte und verbotene sexuelle Beziehungen und damit über Nähe und Distanz im zwischenmenschlichen Bereich. Dass in diesem Zusammenhang auch die Sodomie als verachtenswert dargestellt ist, versteht sich von selbst, zumal dieses Verlangen ja nicht vom Tier, sondern vom Menschen ausgeht.

Manche der Vorschriften über die Beziehung von Mensch zu Mensch werden heute anders betrachtet, und dies sicherlich zu Recht. Andere haben ihre ewige Gültigkeit behalten, wie das Verbot des Inzests. Gleich geblieben ist unveränderlich die Wahrung des Schamgefühls und der körperlichen und seelischen Würde eines Menschen. Von da können wir auch Verbote ableiten, die so in der Tora nicht explizit aufgeführt sind, wie zum Beispiel die Pornografie und an allererster Stelle die Kinderpornografie, eine der würdelosesten und erniedrigendsten Erscheinungen im zwischenmenschlichen Bereich.

Gefährliche, unerlaubte Nähe, Übergriffigkeit des Menschen, sei es unmittelbar dem Ewigen gegenüber oder auch mittelbar, durch das Verhalten Seinen Geschöpfen gegenüber, ob Mensch oder Tier, davon spricht der gesamte Wochenabschnitt Acharej Mot. Er ist damit eine der zentralen Schriftstellen in der Tora, wird hier doch auf die drei Dinge Bezug genommen, die wir keinesfalls – nicht einmal unter akuter Lebensgefahr! – tun dürfen: Schefichat Damim (Mord, unrechtes Blutvergießen), Avoda sara (Götzendienst) und Giluj Arajot (verbotene sexuelle Handlungen), wie uns der Talmud lehrt (Pesachim 25a-b und Sanhedrin 74a).

»Beachtet Meine Gesetze und Meine Rechte, durch die der Mensch, wenn er sie ausübt, ewiges Leben erhält«, versichert uns der Ewige. Dies bezieht sich durchaus nicht nur auf das Jenseits, sondern soll uns Menschen durch die Beachtung der Gebote ein gutes und sinnerfülltes Leben hier im Diesseits ermöglichen.

Teschuwa Die Gebote und auch die Ermahnung, sie einzuhalten, sind erforderlich, da der Mensch einen freien Willen erhalten hat. Er kann sich also entscheiden, nach den Wegen der Tora zu leben und zu handeln, oder sich davon zu entfernen. Der Ewige lässt keinen Zweifel daran, was Er für den Menschen wünscht und von ihm haben will, und Er räumt ihm sogar bis zum allerletzten Atemzug die Möglichkeit zur Teschuwa ein.

Es liegt also an uns, wir haben die Wahl – im Gegensatz zu jenen zwei Böcken an Jom Kippur, über die das Los entschied, wer von beiden für den Ewigen bestimmt war und wer zum Asasel in die Wüste geschickt wurde. Und im Unterschied zu den zwei Ziegenböcken geht es für uns Menschen nicht darum, durch die Beachtung der Gebote umzukommen, sondern durch sie und mit ihnen zu leben. Wir sollen nicht unserem Tod, sondern unserem Leben einen Sinn geben. Denn das Leben und die Würde Seiner Geschöpfe sind dem Ewigen kostbar, in jeglicher Hinsicht.

Die Autorin ist Rabbinerin der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur. Dann werden weitere Speisegesetze übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden verbotene Ehen wegen zu naher Verwandtschaft und Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30

Chanukka

Das jüdische Licht

Die Tempelgeschichte verweist auf eine grundlegende Erkenntnis, ohne die unser Volk nicht überlebt hätte – ohne Wunder kein Judentum

von Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky  12.12.2025

Wajeschew

Ein weiter Weg

Das Leben Josefs verlief nicht geradlinig. Aber im Rückblick erkennt er den Plan des Ewigen

von Rabbinerin Yael Deusel  12.12.2025

Talmudisches

Nach der Sieben kommt die Acht

Was unsere Weisen über die Grenze zwischen Natur und Wunder lehren

von Vyacheslav Dobrovych  12.12.2025

Chanukka

Nach dem Wunder

Die Makkabäer befreiten zwar den Tempel, doch konnten sie ihre Herrschaft nicht dauerhaft bewahren. Aus ihren Fehlern können auch wir heute lernen

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  12.12.2025

Quellen

Es ist kompliziert

Chanukka wird im Talmud nur selten erwähnt. Warum klammerten die Weisen diese Geschichte aus?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.12.2025

Religion

Israels Oberrabbiner erstmals auf Deutschlandbesuch

Kalman Ber startet seine Reise in Hamburg und informiert sich dort über jüdisches Leben. Ein Schwerpunkt: der geplante Neubau einer Synagoge

 10.12.2025

Thüringen

Jüdische Landesgemeinde und Erfurt feiern Chanukka

Die Zeremonie markiert den Auftakt der inzwischen 17. öffentlichen Chanukka-Begehung in der Thüringer Landeshauptstadt

 08.12.2025

Wajischlach

Zwischen Angst und Umarmung

Die Geschichte von Jakow und Esaw zeigt, wie zwei Brüder und zwei Welten wieder zueinanderfinden

von Rabbiner Joel Berger  05.12.2025

19. Kislew

Himmlischer Freispruch

Auch wenn Rosch Haschana schon lange vorbei ist, feiern Chassidim dieser Tage ihr »Neujahr«. Für das Datum ist ausgerechnet der russische Zar verantwortlich

von Chajm Guski  05.12.2025