Berlin

»Wehr dich!«

Bei ARD und ZDF saßen die Zuschauer heute nicht in der ersten Reihe. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) zeigte sich in der Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus erfreut, dass der TV-Nachrichtensender Phoenix die Veranstaltung live übertrug. »Noch besser wäre es«, fügte er hinzu, »wenn ARD oder ZDF es wie wir wichtig genug fänden, dieses Gedenken und diesen gemeinsamen Willen aller Demokraten einer breiten Öffentlichkeit im Hauptprogramm öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten zu vermitteln.« Daraufhin gab es lauten Applaus bei Abgeordneten und Besuchern des Bundestages.

Nachdem die Gedenkstunde mit dem »Enosch K’chozir Jomow« in der Vertonung von Louis Lewandowski begonnen hatte, erinnerte Lammert in seiner Rede an den 30. Januar vor genau 80 Jahren, an dem die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen. Der Bundestagspräsident zählte all jene auf, derer heute im Bundestag gedacht wurde: »der europäischen Juden, Sinti und Roma, der zu ›Untermenschen‹ degradierten slawischen Völker, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, dem Hungertod preisgegebenen Kriegsgefangenen, der Opfer staatlicher Euthanasie, der Homosexuellen, aller, die sich aus religiösen, politischen oder schlicht menschlichen Beweggründen dem Terror widersetzten und deswegen der totalitären Staatsgewalt zum Opfer fielen«.

NSU Der Bundestagspräsident mahnte, dass auch heute, angesichts der NSU-Morde und antisemitischer Gewalttaten, die Demokratie täglich verteidigt werden müsse. An der Gedenkstunde nahmen auch Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesratspräsident Winfried Kretschmann (Grüne) teil. Die Gedenkveranstaltung findet üblicherweise am 27. Januar statt, war in diesem Jahr aber auf den 30. Januar verschoben worden, den Tag des Machtantritts von Adolf Hitler.

Die Gedenkrede hielt in diesem Jahr die Journalistin und Schriftstellerin Inge Deutschkron (Ich trug den gelben Stern). Ihrer Rede gab die 90-Jährige den Titel »Zerrissenes Leben«. Darin erzählte sie, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter die Nazizeit in Berlin überlebt hatte. »Mein Kind, du bist Jüdin. Du gehörst nun zu einer Minderheit«, hatte ihre Mutter kurz nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 zu ihr gesagt und hinzugefügt: »Lass dir nichts gefallen, wenn dich jemand angreifen will. Wehr dich!«

Nie wieder In eindringlichen Worten beschrieb Deutschkron, wie sie als junges Mädchen gezwungen wurde, den gelben Stern zu tragen, wie ihr nichtjüdische Mitmenschen mit Hass, manchmal auch mit Hilfsbereitschaft begegneten, und wie sie schließlich in ein sogenanntes »Judenhaus« eingewiesen wurde. Sie berichtete von den immer schlimmer werdenden Schikanen, Verboten und Ausgangsperren, denen Juden ausgesetzt waren, und schließlich von den Deportationen, denen sie nur durch die Hilfe nichtjüdischer Freunde entging. Nach dem Krieg war sie »wie besessen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe«. Dafür habe sie sich bis heute mit all ihrer Kraft eingesetzt.

Im Interview mit der Jüdischen Allgemeinen sagte Inge Deutschkron über ihre Rede im Bundestag: »Ich habe mich über die Einladung gefreut.« Allerdings sei es für sie auch »keine Ehre« gewesen, vor dem Bundestag sprechen zu dürfen. »Es sollte umgekehrt eine Ehre für die Vertreter Deutschlands gewesen sein, dass ich die Einladung trotz allem angenommen habe.«

Die Rede von Inge Deutschkron im Wortlaut: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/42606255_kw05_gedenkstunde/rede_deutschkron.html

Dialog

Besondere Beziehungen

Warum die kurdische Gemeinschaft an der Seite Israels und der Juden weltweit steht

von Ali Ertan Toprak  06.09.2025

Essay

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  06.09.2025 Aktualisiert

Brüssel

Genozid-Debatte: EU-Kommission distanziert sich von Ribera

Die Europäische Kommission will sich die Einschätzung ihrer spanischen Vizepräsidentin nicht zu eigen machen, wonach Israel einen Genozid an den Palästinensern verübe

 05.09.2025

Schweden

Jazz-Musiker David Hermlin wirft Festival Cancelling vor

Der Musiker habe auf einem Swing-Festival propalästinensischen Aktivisten Fragen gestellt. Plötzlich sei ihm »Einschüchterung« vorgeworfen worden

 05.09.2025

Besuch

Neue Schulpartnerschaften zwischen Israel und Hessen

Solidarität in schwierigen Zeiten: Hessens Bildungsminister Schwarz besucht Israel und vereinbart mit seinem dortigen Amtskollegen eine neue Kooperation

von Matthias Jöran Berntsen  05.09.2025

Bericht

Senat: Rund 200 Personen werden der Hamas zugrechnet

Der ebenfalls als terroristische Organisation eingestuften »Volksfront zur Befreiung Palästinas« (PFLP) würden rund 30 Personen zugerechnet

 06.09.2025 Aktualisiert

München

Israelische Konsulin warnt vor wachsendem Judenhass

»Da wünsche ich mir mehr Haltung«, sagt Talya Lador-Fresher

 05.09.2025

Frankfurt am Main

Vor 80 Jahren: Erster Gottesdienst in Westendsynagoge

Ein Besuch in der größten Synagoge der Stadt und ein Gespräch über Verbundenheit sowie den 7. Oktober

von Leticia Witte  05.09.2025

Paris

EU-Kommissionsvize greift Israel scharf an

Teresa Ribera spricht bei einem Votrag in Zusammenhang mit dem Vorgehen des jüdischen Staates gegen den Terror in Gaza von einem »Genozid«

 05.09.2025