Berlin

Verdrängt, verschwiegen, vertuscht

Pflichtlektüre: Guido Westerwelle (l.) und Eckart Conze nach der Übergabe der Studie »Das Amt und seine Vergangenheit« Foto: ddp

Vier Jahre Recherche zur Geschichte des Auswärtigen Amtes (AA) während der Nazizeit wiegen etwas über ein Kilo. Nicht außergewöhnlich schwer, aber für den Außenminister Guido Westerwelle (FDP) trotzdem eine Arbeit von Gewicht. Die Studie Das Amt und die Vergangenheit (Blessing Verlag), die eine unabhängige Kommission um die Historiker Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann erstellt hat, ist »ein notwendiges Buch, das nicht mehr wegzudenken ist«, sagte Westerwelle bei der Übergabe des Werkes am Donnerstagnachmittag im Berliner Außenministerium. Er betonte zudem, dass diese umfassende Untersuchung in Zukunft fester Bestandteil der Mitarbeiterausbildung im AA sein werde. Denn wer die Vergangenheit nicht kenne, könne für die Zukunft nichts lernen, sagte Westerwelle in der Bibliothek des Amtes vor zahlreichen aktiven und angehenden Diplomaten.

Reisekosten Schon im Vorfeld hatte die Studie, die 2005 vom damaligen Außenminister Joschka Fischer in Auftrag gegeben wurde, für Aufsehen gesorgt, weil sie die oftmals engen Verstrickungen des AA mit der Politik des Nationalsozialismus nachweisen konnte. Reisekostenabrechnungen mit der Begründung »Liquidation von Juden« zeigten, mit welcher »administrativen Kälte« das AA am Holocaust beteiligt gewesen sei. »Das Unfassbare war Realität. Mord konnte man als Dienstgeschäft abrechnen.« Zudem habe die Behörde »frühzeitig über die verbrecherischen Methoden der deutschen Kriegsführung« Bescheid gewusst, sagte der FDP-Vorsitzende. Ja, sie habe sich aktiv beteiligt. Es gäbe nichts zu rechtfertigen oder zu beschönigen. Die braune Vergangenheit sei verdrängt, verschwiegen und vertuscht worden.

Die international besetzte Historikerkommission bewertete ihre Studie als ein Zeichen, dass das Geschichtsbewusstsein in der deutschen Gesellschaft angekommen sei. Allerdings, so Norbert Frei von der Universität Jena, sei der öffentliche Umgang mit Das Amt und die Vergangenheit auch eine Herausforderung für nachfolgende Generationen. Denn Geschichtsbewusstsein müsse immer wieder neu erarbeitet werden.

Kritik übte die Kommission allerdings an der Unterstützung durch das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Westerwelle sicherte zu, dass eine bereits eingerichtete Arbeitsgruppe unter der Leitung von Staatssekretär Peter Ammon sich zum Beispiel damit beschäftigen werde, ob und welche Bilder ehemaliger Spitzendiplomaten in die Ahnengalerie kommen.

Pietät Ebenfalls werde man sich eingehend mit der Praxis von Nachrufen auf ehemalige Mitglieder des AA befassen. Anfang dieser Woche war Westerwelle angegriffen worden, weil er den sogenannten Nachruf-Erlass des damaligen Außenministers Joschka Fischer im Februar wieder aufgehoben hatte. Der Grünen-Politiker hatte Ehrungen für Diplomaten mit Nazi-Vergangenheit unterbunden. Westerwelle betonte: »Eines ist ganz klar. Nazis werden nicht geehrt.« Es sei für ihn allerdings eine »Frage der Pietät«, ehemaliger Mitarbeiter, die »sich nie etwas haben zuschulden kommen lassen«, würdig zu gedenken.

Am Abend meldete sich dann Joschka Fischer zu Wort, der Initiator der Studie. Er forderte, dass das Archiv des AA Teil des Bundesarchivs und somit öffentlich werden müsse. Denn das »Weißewäschewaschen« müsse endlich beendet werden, sagte Fischer. Der 52-Jährige in diesem Zusammenhang an eine ehemalige Mitarbeiterin – Marga Henseler.

Die Übersetzerin hatte 2003 in der Hauspostille »Intern AA« einen Nachruf auf den Diplomaten Franz Nüßlein gelesen und sich darüber beschwert, dass dessen Nazi-Vergangenheit unerwähnt blieb. Erst über Umwege gelang Henselers Beschwerde an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und wurde an Fischer weitergeleitet, der daraufhin den »Nachruf-Erlass« auf den Weg brachte. Fischer lobte die heute 90-Jährige mit den Worten: »Es ist Marga Henseler, die meiner Ansicht nach hier Geschichte gemacht hat.«

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth forderte ebenfalls am Donnerstag in einem Interview mit Spiegel Online, alle Bundesministerien müssten dem Beispiel des Auswärtigen Amtes folgen und ihre eigene NS-Vergangenheit von unabhängigen Fachleuten untersuchen lassen.

Der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, geht noch einen Schritt weiter und forderte am Freitag in der Schweriner Volkszeitung, dass sich auch die deutsche Wirtschaft, Unternehmen und deren Nachfolger, ihrer Verantwortung stellen und ihre NS-Vergangenheit untersuchen. Zudem regte er einen Ethikkodex für die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes an. Es reiche nicht aus, wenn jeder Mitarbeiter die Studie der Historikerkommission »unter dem Arm trägt«, sagte Kramer.

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  20.11.2025 Aktualisiert

Berlin

Messerangriff am Holocaust-Mahnmal: Prozess beginnt

Ein 19-jährigen Syrer soll dort im Februar einem spanischen Touristen lebensgefährlich verletzt haben. Aufgrund einer sofortigen Notoperation überlebte das Opfer

 20.11.2025

Washington D.C.

Trump unterschreibt Gesetz zur Freigabe von Epstein-Akten

Der Druck auf den US-Präsidenten wurde zu groß - nun hat er die Veröffentlichung von Akten zu einem Fall genehmigt, den er nicht loswurde. Was das bedeutet

von Anna Ringle, Franziska Spiecker, Khang Mischke, Luzia Geier  20.11.2025

Russischer Eroberungskrieg

Neuer US-Friedensplan: Ukraine unter Druck

Die USA haben Sanktionen gegen Russland verhängt, doch hinter den Kulissen scheint weiter verhandelt worden zu sein. Kiew trifft dies zu einem doppelt ungünstigen Zeitpunkt

 20.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  20.11.2025

Essay

All die potenziellen Schüsse

In diesem Herbst liest man fast täglich von vereitelten Anschlägen auf Juden. Was die ständige Bedrohung mit uns macht

von Mascha Malburg  20.11.2025

Stuttgart

Polizei plant Großeinsatz bei Maccabi-Spiel

Vor den Europa-League-Auftritten gegen Maccabi Tel Aviv sind der VfB Stuttgart und der SC Freiburg alarmiert. Ein Fan-Ausschluss wie zuletzt in Birmingham ist momentan nicht geplant

 19.11.2025

Kommentar

Danke, Berlin!

Die Entscheidung der Behörden, einem Hamas-Fanboy die Staatsbürgerschaft zu entziehen, sendet ein unmissverständliches und notwendiges Signal an alle Israelhasser. Mit Mahnwachen allein können wir die Demokratie nicht verteidigen

von Imanuel Marcus  19.11.2025

München

LMU sagt Veranstaltung zu palästinensischer Wissenschaft ab

Die Universität verwies in ihrer Stellungnahme darauf, dass es erhebliche Zweifel gegeben habe, »ob es sich um eine wissenschaftliche Veranstaltung auf dem erforderlichen Niveau gehandelt hätte«

 19.11.2025