Meinung

Toleranz genügt nicht

Als ich Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg war, besuchte uns 2007 die Bundeskanzlerin. In einem Podiumsgespräch zum Thema »Toleranz« versuchte ein jüdischer Student ihr zu erklären, warum ihm dieser Begriff nicht genügte, warum er auf Akzeptanz pochte – nicht geduldet wollte er werden, sondern für voll genommen, so wie er war. Er drückte sich ungeschickt aus, Frau Merkel verstand sein Anliegen nicht.

Neulich besuchte die Kanzlerin die Ratstagung des Zentralrats und sprach erneut über Toleranz. Sie tat dies dort explizit mit Verweis auf die Beschneidungsdebatte, und ihr Auftritt wurde als Signal der Solidarität gefeiert – was er zweifellos war. Heute würde kaum mehr jemand aufmucken, dass »Toleranz« nicht genug sei. Die Beschneidungsdebatte hat den Juden in Deutschland vor allem gezeigt, dass sie als Religionsgruppe nirgends »angekommen« sind. Ihre religiöse Praxis kann in Windeseile von gefühlten zwei Dritteln der Gesellschaft zur Barbarei schlechthin erklärt werden.

Gesetz Sollte das Beschneidungsgesetz am kommenden Mittwoch verabschiedet werden, so ist dies ebenfalls ein Akt der Toleranz. Die Juden sind nicht Teil der Selbstverständlichkeit, sondern nurmehr der »religiösen Vielfalt« Deutschlands. Dies hat uns, mehr als alle medizinischen und religiösen Details, diese Debatte gelehrt. Und falls dann auch noch das Verfassungsgericht allfällige Klagen gegen das Gesetz abweist, kommt endgültig die Zeit der Analyse. Es wird dann vielleicht gefragt werden können, ob dies nicht eine typisch deutsche Debatte war.

Ob hier nicht mit einem Gewaltbegriff operiert wurde, der tief im deutschen Trauma autoritärer Erziehung liegt und gar nicht so viel mit muslimischen und jüdischen Knaben von heute zu tun hat. Und ob im Wesentlichen deutsche Juristen, Ärzte und Leserbriefschreiber die Weltlizenz auf die Auslegung des Begriffs »Menschenrechte« beanspruchen können. Schon in der französischen Presse war die Debatte nur eine Randnotiz der Rubrik »Ausland« wert.

Der Schock bleibt und die Ratlosigkeit: Wie ist in Zukunft solchen Konvulsionen vorzubeugen? Als Akademiker glaube ich an die Kraft des Wortes. Nicht des gepredigten, sondern des gewechselten. Wollen wir wieder mehr als Tolerierte, mehr als Schutzjuden sein, so müssen wir uns selbst und unsere Kontrahenten dem intellektuellen Austausch stellen. In der Beschneidungsdebatte und anderswo.

Der Autor lehrt Religionsgeschichte an der Universität Basel. Von ihm erschien jüngst das Buch »Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte«.

Rechtsextremismus

Fragezeichen nach skurriler Rede bei AfD-Jugendkongress 

Wer steckt hinter dem mysteriösen Auftritt des Mannes, der mit einer Rede im Hitler-Stil den Gründungskongress der AfD-Jugend aufmischte? Ihm droht der Parteiausschluss

von Jörg Ratzsch  01.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

München

Hugendubel streicht antisemitisches Kinderbuch aus Sortiment

»Sofort nach Kenntnisnahme über dessen Existenz« sei das Malbuch entfernt worden, heißt es aus dem Unternehmen

 01.12.2025

Berlin

Karoline Preisler bei Marsch gegen Antisemitismus

»Es ist ganz besonderer Marsch, weil Männer Frauen und Kinder, Menschen aus ganz Deutschland und darüber hinaus zusammengekommen sind«, sagt die Juristin und Politikerin

 01.12.2025

Potsdam

Anne Frank mit Kufiya: Jüdische Gemeinde fordert Ausstellungs-Stopp

Eine Ausstellung im Museum Fluxus+ will Ähnlichkeiten zwischen Palästinensern und Israelis aufzeigen. Doch die Darstellung zieht Kritik aus der Jüdischen Gemeinde und von Brandenburgs Antisemitismusbeauftragten auf sich

 01.12.2025

Interview

»Nach dem Waffenembargo gibt es einiges zu kitten«

CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter über den Antrittsbesuch des Bundeskanzlers in Israel, Siedlergewalt im Westjordanland und die Kooperation mit dem Mossad

von Joshua Schultheis  01.12.2025

Hamburg

So reagiert die Politik auf den Rücktritt Stefan Hensels

Wegen der vorzeitigen Amtsaufgabe des Antisemitismusbeauftragten macht die CDU dem rot-grünen Senat schwere Vorwürfe. Der Erste Bürgermeister lobt dagegen die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Beauftragten

von Joshua Schultheis  01.12.2025

Verteidigung

Deutschland stellt Arrow 3 in Dienst

Erstmals kommt das Raketenabwehrsystem außerhalb Israels zum Einsatz

 01.12.2025