Bundestag

Im Zeitzeugenstand

Marcel Reich-Ranicki (M) mit dem dem Chef des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle (l.) und Bundespräsident Christian Wulff (r.) Foto: dpa

Seine Stimme ist brüchig, fast leise. Langsam und etwas beschwerlich kommen ihm die Worte über die Lippen. Nur selten hat Marcel Reich-Ranicki am Freitagvormittag diesen energischen Ton, den man von ihm gewohnt ist. Der bekannte Literaturkritiker hält im nicht ganz voll besetzten Plenarsaal des Bundestages die Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus.

Der 91-Jährige, der, wie er betont, nicht als Historiker, sondern als Zeitzeuge spricht, berichtet über den 22. Juli 1942, der nicht nur sein Leben veränderte, sondern das aller Juden im Warschauer Ghetto. Denn an diesem Tag musste Reich-Ranicki jene Sitzung protokollieren, auf der »über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt« wurde, »das Todesurteil«: die Deportation des Warschauer Ghettos.

Schicksal In einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen hatte der Literaturkritiker am Donnerstag gesagt: »Es wird für mich sehr schwierig werden, vor das Plenum zu treten, um von dieser schrecklichen Zeit zu berichten. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, ob ich der Aufgabe gewachsen bin, noch einmal über das Schicksal der Juden im Warschauer Ghetto zu sprechen.«

»Sein Schicksal steht stellvertretend für das von Millionen Menschen«, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert in seiner Eröffnungsrede. Zuvor erklang Chopins Nocturne in cis-Moll. Das Stück hatte der polnische Pianist Wladyslaw Szpilman im Warschauer Rundfunkt gespielt, als dieser 1939 sein Programm wegen eines deutschen Angriffs unterbrechen musste. »Mit demselben Stück [...] nahm der polnische Rundfunk seine Sendung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf«, sagte Lammert.

Musik, so der Bundestagspräsident, habe Reich-Ranicki beim Überleben geholfen. In Zeiten größter Bedrängnis habe der spätere Literaturkritiker mit Hilfe von Liebe, Poesie und Musik Schutz und Zuflucht in einer Gegenwelt gesucht.

Dass es auch Musik – ein Walzer von Johann Strauss – war, die Marcel Reich-Ranicki an jenem Sommertag im Juli 1942 aus den Autos der vor dem Hauptgebäude des »Judenrates« wartenden SS-Männer hörte, das erzählt er dem Publikum, das gespannt seinen Worten lauscht. Die Gesichter vieler sind regungslos, fast erstarrt.

Plenarsaal Mit interessierten Blicken verfolgen die Abgeordneten und Gäste im Bundestag, wie der 91-Jährige, gestützt von Bundespräsident Christian Wulff und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, zum Rednerpult hin- und wieder zurückgeführt wird. Mit kleinen Schritten nimmt der Literaturkritiker, der in Begleitung seines Sohnes Andrew Alexander gekommen ist, in der Mitte des Plenarsaals Platz.

Reich-Ranicki hat sein Leben vor fast 13 Jahren in einer Autobiografie aufgeschrieben. Diese »erschütternden Erfahrungen« seien Erinnerungen, die bleiben – »auch gerade für nachfolgende Generationen«, sagt der Bundestagspräsident. Dass es aber noch ein langer Weg sei, bis »alle Menschen frei, gleich und ohne Angst leben können«, zeige die Mordserie der sogenannten Zwickauer Terrorzelle in den vergangenen Monaten, betont Lammert.

So leise Reich-Ranicki seine Rede begonnen hatte, so brüchig die Stimme auch während des Vortrags wurde, so nachdrücklich beendete er ihn. Mit Sätzen, die die Stille im Plenarsaal erdrückend werden lässt: »Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die ›Umsiedlung‹ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.«

Marcel Reich-Ranickis Rede im Wortlaut:
http://bit.ly/w6tu6U

Interview

»Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen«

Nach dem Massaker von Sydney fragen sich nicht nur viele Juden: Wie kann es sein, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt? Auch der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sieht Defizite

von Leticia Witte  22.12.2025

Washington D.C.

Kritik an fehlenden Epstein-Dateien: Minister erklärt sich

Am Freitag begann das US-Justizministerium mit der Veröffentlichung von Epstein-Akten. Keine 24 Stunden später fehlen plötzlich mehrere Dateien - angeblich aus einem bestimmten Grund

von Khang Mischke  22.12.2025

Australien

Behörden entfernen Blumenmeer für die Opfer von Bondi Beach

Die Regierung von New South Wales erklärt, man habe sich vor dem Abtransport der Blumen eng mit der jüdischen Gemeinde abgestimmt

 22.12.2025

Sydney

Attentäter warfen Sprengsätze auf Teilnehmer der Chanukka-Feier

Die mutmaßlichen Attentäter Naveed und Sajid Akram bereiteten sich auf das Massaker vor. Ihre Bomben explodierten nicht

 22.12.2025

New York

Tucker Carlson ist »Antisemit des Jahres«

Die Organisation StopAntisemitism erklärt, ausschlaggebend seien Beiträge, in denen er erklärten Judenhassern, Holocaustleugnern und extremistischen Ideologen eine große Bühne geboten habe

 22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Gaza

Das Problem mit der Entwaffnung

Die Hamas weigert sich strikt, die Waffen niederzulegen. Was Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung findet und den Friedensplan stocken lässt

 21.12.2025 Aktualisiert

Interview

»Die Zustände für Juden sind unhaltbar. Es braucht einen Aufstand der Anständigen«

Zentralratspräsident Josef Schuster über den islamistischen Anschlag von Sydney und das jüdische Leben in Deutschland nach dem 7. Oktober

 21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025