Gespräch

»Geradezu besessen«

»Das ist ein Toleranztest für unsere Gesellschaft«: Dieter Graumann Foto: ard

Herr Graumann, was sich infolge des Kölner Beschneidungsurteils diesen Sommer in der deutschen Öffentlichkeit abspielt, bezeichnen die einen als medialen Tsunami, andere als regelrechten Kulturkampf. Wie ist Ihre Einschätzung?
Es ist kein bloßes Sommertheater, auch ein Sommermärchen fühlt sich definitiv anders an. An einer munteren Debatte ist ja grundsätzlich gar nichts auszusetzen. Ich habe festgestellt, dass die meisten Menschen in Deutschland in Bezug auf die Beschneidung auch gar nicht Bescheid wissen. Wer sich das erste Mal mit dem Thema beschäftigt, schreckt zunächst einmal eventuell zurück. Das Fremde, Unbekannte erweckt Unbehagen und Ängste, in diesem sensiblen Punkt ohnehin. Da ist es doch nachvollziehbar, dass kritische Fragen gestellt werden. Dagegen ist überhaupt gar nichts einzuwenden. Wenn die Debatte sachlich und vernünftig geführt wird, auch von kontroversen Stimmen begleitet, ist das absolut legitim. Das hat mit Antisemitismus und Rassismus zunächst einmal gar nichts zu tun. Gleichwohl gibt es aber diejenigen, die sozusagen auf den Zug aufspringen und ihre antijüdischen und antimuslimischen Ressentiments im Rahmen dieser Debatte ausleben wollen. Das finden wir gerade sehr häufig im Internet. Wenn man bestimmte Blogs liest, kann einem wirklich schlecht werden. Dort tummeln sich die, die Beschneidung sagen und Antisemitismus und Muslimfeindschaft meinen. Das gibt es häufiger und schriller, als viele denken.

Einmal abgesehen von den Ewiggestrigen im Netz: Haben Sie den Eindruck, dass die Debatte in die richtige Richtung läuft?
Nein, gar nicht. Es gibt kein einziges Land auf dieser Welt, in dem mit dieser schneidenden Schärfe und schroffen Unerbittlichkeit argumentiert wird von den geradezu besessenen Beschneidungsgegnern. Jene, die die Brit Mila befürworten oder praktizieren, werden rüde auf die Anklagebank gesetzt und lauthals kriminalisiert. Diese schroffe, besserwisserische und bevormundende Art sucht man vergeblich in allen anderen Ländern, wo ja zuweilen auch kritisch mit dem Thema umgegangen und diskutiert wird. Das ist schon mehr als auffällig. Warum das so ist, sollen besser andere klären. Aber auffällig ist es in jedem Fall.

Haben Sie ein Beispiel für diese Schroffheit?
Wenn ich den Offenen Brief der 700 Wissenschaftler an Bundesregierung und Bundestag lese, dann ist das eine einzige Anklageschrift. Eine Schmähschrift, welche die jüdische Gemeinschaft heute und alle Juden seit Jahrtausenden vor uns als notorische Kinderquäler diffamiert. Da wird von namhaften Medizinern und Juristen behauptet, wir übten »sexuelle Gewalt« gegen unsere Kinder aus. Man tue Kindern nicht weh, heißt es dort, und dieser Satz wird auch noch marktschreierisch mit einem groben Ausrufezeichen versehen. Das ist eine Form von Anklage und Belehrungsdenken, die man nirgendwo auf der Welt sonst noch findet.

Auch ein Teil der Medien stimmt in den Chor ein.
Es gibt eine große überregionale Tageszeitung, die ich selbst seit Jahrzehnten lese, die seit Wochen einen regelrechten journalistischen Kreuzzug gegen die Beschneidung führt. Immer wieder wird die Brit Mila dort gleichgesetzt mit Kindesmisshandlung und -missbrauch, mit Genitalverstümmelung von Mädchen, mit der Prügelstrafe und sogar Menschenopfer. Und das mit einem Eifer, der mir von dieser Zeitung in keinem anderen Fall bekannt ist.

Welche Zeitung meinen Sie?
Nun: Ich lebe in Frankfurt und rede ganz allgemein. Den Namen nenne ich aber natürlich nicht – sonst wird mir womöglich das Abonnement gekündigt!

Gibt es weitere Beispiele?
Leider ja: Der Berliner Kurier hat am 17. Juli eine Karikatur veröffentlicht, auf der man einen alten, sehr krummnasigen Mann sieht, der gerade einem Jungen den ganzen Penis abgeschnitten hat und das blutverschmierte Messer noch in der Hand hält. Darunter steht eine witzig gemeinte, aber sehr plump daherkommende Bemerkung – eine Karikatur, die genausogut im »Stürmer« hätte erscheinen können. Hier wird Rassismus pur transportiert. Es ist sicher nicht so gemeint, doch so gemacht. Aber: So was kommt von so was.

Meinen Sie, dass hier Aufklärung und Information Abhilfe schaffen könnten?
Selbstverständlich ist es immer besser, wenn man Bescheid weiß. Gerade rund um die Frage der Brit Mila herrscht eine große Unwissenheit vor. Zudem haben wir gar keine andere Wahl, als zu versuchen, mit Informationen dagegenzuhalten, Unterstellungen zurückzuweisen, falsche Angaben richtigzustellen. Aber zur Aufklärung gehören jene, die zuhören wollen. Schließlich muss man auch auf die Bereitschaft des Gegenübers stoßen, die Argumente entgegennehmen zu wollen. Und hier treffen wir doch leider viel zu oft eine Mauer von unsensiblem Unwillen und unnachgiebiger Ablehnung.

Was erzürnt Sie in der Debatte vor allem?
Dass uns immer unterstellt wird, wir würden unsere Kinder quälen oder misshandeln. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Alle Menschen lieben ihre Kinder. Und wir Juden – vorsichtig gesagt – bestimmt nicht weniger als andere auch. Jüdische Mütter und Väter gehen für ihre Kinder durchs Feuer, sie haben das auch schon tun müssen. Uns nun zu unterstellen, wir würden ihnen mutwillig Schmerz, Schaden und Qualen zufügen, das ist einfach infam und verletzend. Aber genau das geschieht. Diejenigen, die so handeln, sollten das ganz schnell unterlassen. Ich glaube auch, dass wir uns das nicht weiter gefallen lassen dürfen. Unsere Kinder benötigen keine selbst ernannten externen Fürsprecher, und wir Juden brauchen hier auch keine Nachhilfestunden und Belehrungen. Ich frage mich manchmal wirklich: Sollen denn jetzt am deutschen Rechtswesen jüdische Kinder genesen? Das erscheint mir absurd.

Es ist aber auch ein ganz anderes Phänomen zu beobachten: Selten gab es einen derart ausgeprägten Konsens unter Juden in Deutschland, wie er sich jetzt in der Beschneidungsdebatte abzeichnet.
Auf diese Erfahrung könnte ich wahrhaftig verzichten, denn die Art, wie gerade jetzt vielfach mit uns umgegangen wird, ist diesen Preis wirklich nicht wert. Aber Sie haben recht. Im Moment gibt es diesen Konsens in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Das ist sehr schön, liegt aber auch an dem enormen Druck, dem wir gerade ausgesetzt sind. Jeder jüdische Mensch wird in seiner Umgebung, im Freundeskreis und in seinem Arbeitsleben mit Fragen und mit Anklagen bombardiert. Da ist es nur natürlich, dass wir zusammenstehen. Wo immer wir uns auch im Judentum befinden: Das vereint uns alle.

Wie wird es weitergehen?
Wir haben seit 4.000 Jahren Beschneidungen vorgenommen und werden das auch die nächsten 4.000 Jahre tun. Und dann noch lange, lange weiter. Wir wissen alle, wie wichtig uns dieses religiöse Gebot ist. Wir werden es weitertragen, wie auch die 100 Generationen vor uns. Und ich habe keinerlei Zweifel, dass die Brit Mila in Deutschland legal ist und auch legal bleiben wird.

Gleichwohl haben Sie gesagt, dass jüdisches Leben in Deutschland ohne Beschneidung nicht mehr möglich wäre.
Genau so wäre es – auch in dieser Frage herrscht Konsens in der ganzen jüdischen Welt. Aber ich will nun keine Krisenszenarien entwerfen. Denn ich glaube, das ist ein wirklicher Toleranztest für unsere Gesellschaft, und ich will daran glauben, dass wir diesen Test als Gesellschaft am Ende glanzvoll und würdevoll bestehen werden. Es wird eine Regelung geben, die klarstellt, dass die Beschneidung legal ist, daran habe ich gar keinen Zweifel. Versprochen ist versprochen. Die Resolution des Bundestages spricht hier eine klare Sprache. Den Politikern, die sich dafür eingesetzt haben – rasch, resolut und verantwortungsbewusst –, gebührt dafür ganz großes Lob.

Am Dienstag wurde bekannt, dass erstmals Strafanzeige wegen einer Brit Mila erstattet wurde. Was sagen Sie dazu?
Der Vorgang zeigt, wie dringend wir eine rechtliche Regelung brauchen, die die Beschneidung aus religiösen Gründen weiterhin ausdrücklich erlaubt. Ich persönlich bin aber zuversichtlich, dass es im Fall in Hof gar nicht erst zu einem Verfahren kommen wird.

Diese Woche ist der israelische Oberrabbiner Yona Metzger eigens wegen der Beschneidungsdebatte nach Berlin gekommen. Ist das unerwünschte Einmischung oder willkommene Unterstützung?
Die Diskussion wird von Juden auf der ganzen Welt aufmerksam registriert. Alle Juden stehen hier zusammen. Und dass sich Rabbiner in einer Frage zu Wort melden, die die Religion in ihrem Wesenskern und ihrem ursprünglichen Sinne betrifft, das ist absolut nachvollziehbar und richtig. Allerdings: Wir haben in der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland keine Theokratie, sondern das Primat der Politik. Und um Politik kümmert sich hier der Zentralrat, der das, so glaube ich, gut genug tut. Doch was dabei durchaus noch einmal deutlich wird: In der Frage der Brit Mila ziehen wir alle an einem Strang. Wir wollen unser Judentum halten und behalten – und genau so wird es auch sein.

Mit dem Präsidenten des Zentralrats sprach Detlef David Kauschke.

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