Antiziganismus

Gegen alte Vorurteile

Protestaktion am Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Oktober 2013 Foto: dpa

Sozialtourismus» war das Unwort des Jahres 2013. Was hat das mit Antiziganismus zu tun? Sehr viel. Richtet sich dieses Schlagwort doch vor allem gegen die Roma. Sie würden unser Land nicht besuchen, um seine Sehenswürdigkeiten zu genießen, sondern um in den Genuss seiner Sozialleistungen zu kommen. Natürlich ist das falsch und ein Vorurteil. Dennoch wird dies von vielen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft geglaubt. Denn die haben den Roma schon immer vorgeworfen, ständig herumzuziehen und sich dabei von allen möglichen Betrügereien zu ernähren.

Das Vorurteil, wonach Roma herumziehende Gauner seien, ist aber nur ein Bestandteil des Antiziganismus. Dabei handelt es sich um eine Ideologie, die in der Mentalität nicht nur der Deutschen, sondern aller europäischen Völker tief verwurzelt ist. Antiziganismus ist so etwas wie deren kultureller Code, mit dem sie sich durch Abgrenzung und Anfeindung gegenüber den Roma definieren. Antiziganismus gehört zu den «Mentalitäten», die nach den Worten des französischen Historikers Fernand Braudel «Gefängnisse von langer Dauer» sind.

wurzeln Daher muss seine Bekämpfung und Überwindung radikal und umfassend sein. Man muss an die Wurzeln gehen und alle Erscheinungsformen des Antiziganismus erfassen. Dabei kann man sich an der Bekämpfung und Überwindung einer anderen Ideologie und Mentalität orientieren: nicht nur, aber vor allem der des Antisemitismus. Haben doch beide Ideologien und Mentalitäten einiges gemeinsam.

Gemeinsam oder zumindest vergleichbar sind die religiösen Bestandteile des Antisemitismus und des Antiziganismus. Während den Juden vorgeworfen wurde, «Kinder des Teufels» zu sein, weil sie Jesus nicht als Messias anerkannt hätten und Schuld an seiner Ermordung trügen, ist den Roma eine Art Bundesgenossenschaft mit dem Teufel unterstellt worden. Sie habe die Roma befähigt, verschiedene teuflische Dinge zu tun.

Wegen dieser Verbrechen seien alle Roma, welche als Nachfahren des Brudermörders Kain angesehen wurden, von Gott zum ständigen Herumziehen verurteilt worden. Der Teufel dagegen habe sie für diese Verbrechen mit der Verleihung von gewissen dämonischen Fähigkeiten belohnt. Die Roma könnten die Zukunft voraussagen und in der Gegenwart (wie die Hexen) allerlei Schadenszauber betreiben.

vorurteile Wichtiger und verbreiteter als diese alten, aber gleichwohl auch heute noch vorhandenen religiösen sind die sozialen Vorurteile gegenüber den Juden und Roma, ist der Vorwurf, Juden wie Roma bereicherten sich auf Kosten der Mehrheitsgesellschaften. Dies entweder durch einfachen Diebstahl oder durch raffinierten Wucher und windige Finanzgeschäfte. Durch Letzteres seien aber vornehmlich die Juden und nicht – beziehungsweise: noch nicht – die Roma ungeheuer reich und mächtig geworden. Der soziale Antisemitismus hat daher eine etwas andere Ausprägung als der soziale Antiziganismus.

Dies trifft auch auf den rassistisch geprägten Antisemitismus und Antiziganismus zu. Gleichwohl ist auch der vergleichbar. Denn beide, Juden wie Roma, wurden als Angehörige einer «minderwertigen» und zugleich «gefährlichen Rasse» angesehen und deshalb verfolgt und ermordet. Davon waren aber auch die «Zigeunermischlinge» betroffen. Denn die hätten nach Ansicht der «Zigeunerforscher» nicht nur «zigeunerisches», sondern auch «asoziales» und «kriminelles» Blut in ihren Adern, weil sich die «reinrassigen» Roma mit «Asozialen» und «Kriminellen» vermischt hätten.

wahnsinn Diese Ansicht war zwar wahnsinnig, dennoch hatte dieser Wahnsinn Methode. Die Nationalsozialisten haben auch sogenannte Halb-, Viertel-, ja selbst Achtelzigeuner nach Osten deportiert und dort ermordet. An dem Volk der Roma ist ein Genozid begangen worden. Dennoch haben die überlebenden Roma so gut wie keine «Wiedergutmachung» erhalten. Schon deshalb konnte ihnen auch nicht vorgeworfen werden, den an ihrem Volk begangenen Genozid für finanzielle und politische Zwecke zu instrumentalisieren.

Zu dem von Adorno so genannten «sekundären Antisemitismus» gibt es – noch – kein antiziganistisches Analogon. Doch das kann sich ändern. Es kann zu einer weiteren Angleichung des Antiziganismus an den Antisemitismus kommen.

Das muss verhindert werden. Der Antiziganismus ist genauso zu ächten und zu bekämpfen wie der Antisemitismus. In all seinen Formen und Erscheinungsweisen. Nicht nur der rassistische, sondern auch der sozial und religiös geprägte. Dies ist von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft einzufordern. Denn die, und nicht etwa die Juden und Roma, sind für die Entstehung und Verbreitung sowohl des Antisemitismus wie des Antiziganismus verantwortlich. Auch nicht für den sogenannten Sozialtourismus.

Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin.

Hanau

Antisemitisches Plakat an Schule: Staatsschutz ermittelt

In einem angrenzenden Park gab es eine Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde. Besteht ein Zusammenhang?

 30.04.2025

Jom Hasikaron

Israel gedenkt der Terroropfer und Kriegstoten

Seit dem 7. Oktober 2023 sind 850 israelische Soldaten und 82 Sicherheitskräfte getötet worden

 30.04.2025

Josef Schuster

»Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland?«

In seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen reflektiert der Zentralratspräsident die Herausforderungen und Gefahren, vor denen die Erinnerung an die Schoa heute steht. Eine Dokumentation

von Josef Schuster  29.04.2025

Mauthausen

Überlebenswunderkind Eva Clarke: Geburt im KZ vor 80 Jahren

Es war eines der größten und gefürchtetsten Konzentrationslager der Nazizeit. Im Mai 1945 wurde es von US-Soldaten befreit. Unter den Überlebenden waren eine Mutter und ihr Neugeborenes

von Albert Otti  29.04.2025

Umfrage

Mehrheit hält AfD wegen deutscher Geschichte für unwählbar

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes fragt die »Memo«-Studie Menschen in Deutschland nach dem Blick zurück

 29.04.2025

Potsdam

Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert besseren Schutz für Synagoge

Vermutlich wurde in Halle ein zweiter Anschlag auf die Synagoge verhindert. Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert deshalb dazu auf, auch die Potsdamer Synagoge besser zu schützen

 29.04.2025

Menschenrechte

Immer schriller: Amnesty zeigt erneut mit dem Finger auf Israel

Im neuesten Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation wirft sie Israel vor, einen »live übertragenen Völkermord« zu begehen

von Michael Thaidigsmann  29.04.2025

Berlin

Streit um geforderte Yad-Vashem-Straße

Zwischen dem Freundeskreis Yad Vashem und dem Roten Rathaus herrscht Unmut

von Imanuel Marcus  29.04.2025

Den Haag

Strafgerichtshof verpflichtet Chefankläger zur Vertraulichkeit

Karim Khan, der unter anderem gegen Benjamin Netanjahu einen Haftbefehl erwirkt hat, darf einem Bericht des »Guardian« zufolge künftig nicht mehr öffentlich dazu Stellung nehmen

 29.04.2025