9. November

Es geht um alles

Eva Umlauf Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

»Vier Wochen, und die Welt ist eine andere«, hat eine Bekannte mir in diesen Tagen geschrieben. Es ist eine sehr schwere Zeit. Zwar fühle ich mich selbst nicht bedroht, weder in meiner Wohnung noch bei meiner Arbeit. Aber mehrere Leute haben mir schon gesagt, dass es besser wäre, wenn ich mein Praxisschild am Hauseingang herunternähme. Ich weiß nicht, was das für einen Sinn haben soll. Wer mich finden will, findet mich auch so.

Ich muss sagen, dass ich zutiefst enttäuscht bin, dass sich die Geschichte wiederholt. Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Nie! Aber leider ist es so.

Ich habe den 9. November 1938 nicht persönlich erlebt. Meine Mutter hat mich im Dezember 1942 im »Arbeitslager« Nováky in der Slowakei geboren. 1944 wurden wir nach Auschwitz deportiert. Ich bin eine der jüngsten Holocaust-Überlebenden. Als mir die Nummer auf den Arm tätowiert wurde, war ich zwei Jahre alt. Außer meiner Mutter und meiner Schwester hat niemand aus meiner Familie überlebt.

Für mich hat der Zweite Weltkrieg bereits am 9. November 1938 angefangen. Das ist zwar historisch nicht korrekt, aber da ging es los, dass die Nationalsozialisten Juden im großen Stil angegriffen haben, ermordet, verhaftet, geschlagen und gedemütigt, während Geschäfte und Synagogen brannten.

In Israel hat es am 7. Oktober begonnen. Man muss diesen Vergleich meiner Überzeugung nach ziehen, aber wir dürfen dabei den 9. November nicht vergessen. Damals haben die Menschen auch nicht geglaubt, dass so etwas wie die Pogromnacht möglich wäre. Umso mehr müssen wir daran erinnern, was früher war und was damals genau passiert ist.

Ich bin ein Nachrichtenjunkie, und ich habe an dem Samstag vor vier Wochen in aller Frühe Nachrichten gesehen. Als sie gemeldet haben, was in Israel passiert ist, ja, was gerade noch passierte, da habe ich einen Stich im Herzen gespürt, wie eine düstere Vorahnung. Und ich habe auch gedacht, das kann doch gar nicht möglich sein.

Es ist, als hätten Antisemiten weltweit nur auf die Anschläge gewartet.

Es macht mir große Angst, dass so viele Menschen diesen Hass gegen Juden so tief in sich tragen. Und das über all die Zeit. Dass Antisemitismus wieder salonfähig ist, dass die Menschen ihn in diesem Ausmaß auf die Straßen tragen und herausschreien, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich bin alt genug, um sagen zu können, dass der Antisemitismus nie weg war. Schon vor dem 7. Oktober ist die Zahl der antisemitischen Straftaten stark angestiegen. Aber mit dem Massaker der Hamas war es wie Öl, das ins Feuer gegossen wird. Als hätten die Antisemiten in Deutschland und weltweit nur darauf gewartet. Diese blanke Mordlust ist mir einfach unbegreiflich.

Zum Schaden aller wird es wahrscheinlich ein langer Kampf werden. Aber wir müssen diesen Krieg gewinnen, denn am Ende können wir niemals zulassen, dass Israel aufhört zu existieren. Wir werden eine Lösung finden, weil wir es müssen. Die Lage ist sehr ernst.

Trotzdem kann ich sagen, dass ich eine Optimistin bin, wenn auch eine mit einer Realistin an ihrer Seite. Ich male mir nicht aus, dass morgen früh wieder alles gut sein wird wie in einem Märchen. Die Zeit für Märchen ist lange vorbei. Aber Aufgeben kommt nicht in Frage. Denn ohne Israel sähe es für alle Juden sehr schlecht aus. Was wären wir ohne den einzigen sicheren Ort auf der Welt?

Bleibt die Frage, was wir tun können. In der Diaspora nicht viel, und ich bin zu alt, um hinzufahren und vor Ort zu helfen. Aber wir müssen öffentlich zeigen, dass wir zu den Menschen in Israel stehen, dass wir an sie denken. Ich fühle mich auch machtlos und kann nur schwer Trost bieten angesichts der Gewalt und des Terrors. Aber die Menschen dort müssen wissen, dass wir sie nicht vergessen haben. Jeder muss tun, was er kann. Es gibt ja einiges. Aber auch nur Zuhören ist schon ein Anfang. Das Wichtigste ist, dass man miteinander spricht. Für die Zukunft.

Bei meiner Arbeit als Zeitzeugin, wenn ich in Schulen und bei Lesungen Kindern und Jugendlichen davon erzähle, was damals alles geschehen ist, habe ich schon immer auch über die aktuelle Situation gesprochen. Nicht nur über die Vergangenheit. Man muss die Hoffnung in die Jugend setzen, ihr begreiflich machen, wie gut es ihr geht und wie zerbrechlich die Demokratie tatsächlich ist. Und dass sie, wenn sie eines Tages 18 Jahre alt und wahlberechtigt sind, sich sehr genau durch den Kopf gehen lassen müssen, welche Partei sie ankreuzen. Eben keine undemokratische.

Wir müssen die Jugend zum Nachdenken bringen, denn sie ist die Zukunft. Menschen wie ich können nur berichten. Und Sie können sich vorstellen, dass es nicht mehr so lange dauern wird, bis wir nicht mehr da sind.

Die Autorin ist Holocaust-Überlebende und Zeitzeugin. Sie arbeitet auch mit 80 noch als Psychotherapeutin und lebt in München.

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