Redezeit

»Eine Aufgabe für Generationen«

Herr Rosenfeld, Sie gehören zu den Referenten bei einer internationalen Tagung von Parlamentariern gegen Antisemitismus im Bundestag. Glauben Sie wirklich, dass man Antisemitismus durch Konferenzen bekämpfen kann?
Konferenzen können schon helfen. Wir können damit natürlich nicht die Welt vom Antisemitismus befreien. Wir können aber wenigstens dazu beitragen, dass die Welt Antisemitismus als Skandal wahrnimmt – und dass Antisemitismus nicht im Gewand des Antizionismus salonfähig wird. Denn wenn sich das in diese Richtung entwickelt, dann haben wir ein riesiges Problem. Ich finde es jedenfalls ermutigend, dass sich hier in Berlin Parlamentarier aus mehr als 35 Ländern versammelt haben. Und ich hoffe, dass wir uns am Ende der Konferenz auf scharfe Forderungen einigen können, die in einem Land nach dem anderen implementiert werden können. Denn dann steigen unsere Chancen, den Antisemitismus zurückzudrängen.

Sie beobachten seit 2000 einen Anstieg des Antisemitismus. In welchen Ländern ist dieser Trend Ihrer Meinung nach am stärksten?
Sicherlich in der muslimischen Welt, aber auch in Europa. Und zwar vor allem in Westeuropa. Aber mit dem Aufstieg eines neuen Nationalismus in Teilen sehen wir auch im Osten Europas mehr Antisemitismus. Auch in meinem Land, den USA, ist das der Fall, aber im Vergleich zur muslimischen Welt und Europa ist der Trend weniger stark ausgeprägt.

Hätten Sie das in dieser Form erwartet?
Antisemitismus ist ein sehr altes Phänomen, und es gibt immer Höhen und Tiefen. Ich hätte allerdings mit dieser Entwicklung, wie wir sie heute sehen, nicht gerechnet.

Antisemitismus tritt, sagen Sie, heutzutage verstärkt im Gewand des Antizionismus auf. Das ist aber doch nicht neu …
Nein, das ist nicht neu, aber es wird gesellschaftlich leider zunehmend akzeptiert. Egal, was das Problem wirklich ist, man kann immer Israel dafür verantwortlich machen. Die meisten Leute, die sich heute als Antizionisten bezeichnen, haben von der Geschichte des Zionismus und seinen vielen Facetten keine Ahnung. Aber sie haben einfach etwas gegen Israel, und viele von ihnen haben auch etwas gegen Juden.

Was bedeutet das für die Juden in der Diaspora und ihre Identifikation mit Israel?
Es macht sie nervös, es macht ihnen Angst. Die Auswanderung nach Israel, vor allem aus Frankreich, nimmt zu. Es gibt Annahmen, dass in diesem Jahr 15.000 französische Juden nach Israel emigrieren werden. Und falls es einen weiteren großen »Vorfall« wie die Anschläge von Paris geben sollte, werden es vielleicht noch mehr sein.

Führt wachsender Antisemitismus auch dazu, dass sich Juden von Israel abwenden?

Das hängt von jedem einzelnen Juden ab. Wie wir wissen, sind Juden untereinander meistens nicht gerade einig. Die meisten Juden bleiben in ihrer Verpflichtung Israel gegenüber loyal, aber nicht alle. Und wir verlieren viele von ihnen, sie gehen in der Gesellschaft auf, und Israel hat keine Bedeutung mehr für sie. Manche wenden sich auch offen von Israel ab und werden feindselig gegenüber dem Land. Das beobachten wir jetzt auf einigen Campus in den USA.

Ist BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) Ihrer Einschätzung nach eindeutig eine antisemitische Bewegung?
BDS hat eine sehr große Bandbreite von Unterstützern. Manche sind zweifelsohne Antisemiten. Aber eine Gruppe wie »Jewish Voice for Peace« würde ich nicht als antisemitisch bezeichnen, obwohl sie offenbar keine Bedenken hat, sich ziemlich üblen Typen bei BDS anzuschließen. Was BDS anstrebt, ist, Israel massiv zu schwächen und letztendlich zu seiner Auflösung beizutragen.

In Europa, haben Sie während der Konferenz gesagt, sind nun verstärkte Anstrengungen nötig, um Flüchtlinge, die aus israelfeindlichen Ländern wie Syrien stammen, gegen Antisemitismus zu »erziehen«.
Das ist eine Riesenanstrengung. Deutschland hat im vergangenen Jahr eine Million Flüchtlinge aufgenommen und wird in diesem Jahr möglicherweise 750.000 weitere aufnehmen. Die meisten sprechen noch kein Deutsch, und viele von ihnen werden sich auch weigern, sich »erziehen« zu lassen, weil sie das als entwürdigend empfinden, und weil es ihrem Selbstverständnis widerspricht. Das ist eine Aufgabe für Generationen, nicht eine Sache von einem oder zwei Jahren.

Wie kann man wissen, wie viele Flüchtlinge wirklich etwas gegen Israel oder gegen Juden haben?
Wir können nicht wissen, ob alle mit diesem Hass »infiziert« sind, aber die meisten von ihnen stammen aus Ländern, in denen Antisemitismus und Hass auf Israel die Norm sind. Die Anstrengung, solche Haltungen zurückzudrängen, muss also sehr groß sein.

Ihr akademisches Leben ist der Erforschung des Antisemitismus gewidmet. Warum haben Sie gerade dieses Gebiet gewählt? Macht das auf Dauer nicht depressiv?
Ich bin in Amerika geboren, meine Eltern kommen aus Russland – sie haben, Gott sei Dank, Europa rechtzeitig verlassen. Viele Mitglieder meiner Familie haben das nicht geschafft. Ich habe mehr als ein halbes Jahrhundert die Schoa erforscht. Ich hätte aber nie damit gerechnet, »Post-Holocaust-Antisemitismus« zu erforschen, weil niemand geglaubt hat, dass es nach der Schoa noch Antisemitismus geben würde. Früher dachte man, dass das Wissen über die Schoa das verhindern würde. Leider haben wir uns geirrt. Deshalb hielt ich es ich für meine natürliche Pflicht, auch den modernen Antisemitismus zu erforschen und anderen etwas darüber beizubringen.

Mit dem Professor für Englisch und Jüdische Studien an der Indiana University in Bloomington und Direktor des Instituts zur Erforschung des zeitgenössischen Antisemitismus sprach Ayala Goldmann.

Staatsbesuch

Kanzler Merz reist am nächsten Wochenende nach Israel

Das Datum steht: Bundeskanzler Merz reist in gut einer Woche zum Antrittsbesuch nach Israel. Der Gaza-Krieg hatte die Reise verzögert, durch die Waffenruhe wird sie jetzt möglich

 28.11.2025

Berlin

Anschlag auf israelische Botschaft geplant? Prozess beginnt

Ein mutmaßlicher IS-Unterstützer kommt vor Gericht. Der Prozess gegen den inzwischen 19-Jährigen beginnt am Montag

 28.11.2025

Brüssel

Weimer warnt vor Antisemitismus und Ausgrenzung beim ESC

Der Kulturstaatsminister will darüber mit seinen europäischen Kollegen sprechen

 28.11.2025

Eurovision Song Contest

Spanien bekräftigt seine Boykottdrohung für ESC

Der Chef des öffentlich-rechtlichen Senders RTVE gibt sich kompromisslos: José Pablo López wirft Israel einen »Genozid« in Gaza und Manipulationen beim Public Voting vor und droht erneut mit dem Austritt

 28.11.2025

USA

Mehrheit der Juden blickt nach Mamdani-Sieg mit Sorge nach New York

Eine Umfrage zeigt: Fast zwei Drittel der Befragten sind der Ansicht, Mamdani sei sowohl antiisraelisch als auch antisemitisch

 28.11.2025

Berlin

Israel, der Krieg gegen die Hamas und die Völkermord-Legende

Der israelische Militärhistoriker Danny Orbach stellte im Bundestag eine Studie und aktuelle Erkenntnisse zum angeblichen Genozid im Gazastreifen vor – und beklagt eine einseitige Positionierung von UN-Organisationen, Wissenschaft und Medien

 27.11.2025

USA

Staatsanwaltschaft rollt den Fall Etan Patz neu auf

Der jüdische Junge Etan Patz verschwindet am 25. Mai 1979 auf dem Weg zur Schule. Jahre später wird er für tot erklärt

 27.11.2025

Debatte

Neue Leitlinie zum Umgang mit NS-Raubgut für Museen und Bibliotheken

In Ausstellungshäusern, Archiven und Bibliotheken, aber auch in deutschen Haushalten finden sich unzählige im Nationalsozialismus entzogene Kulturgüter. Eine neue Handreichung soll beim Umgang damit helfen

von Anne Mertens  27.11.2025

Düsseldorf

Breite Mehrheit im Landtag wirbt für Holocaust-Zentrum in NRW

Große Mehrheit im NRW-Landtag: Fast alle Fraktionen werben für NRW als Standort eines vom Bund geplanten Holocaust-Bildungszentrums. Bayern und Sachsen sind ebenfalls im Rennen

von Andreas Otto  27.11.2025