Margot Friedländer

»Seid Menschen!«

Margot Friedländer (1921–2025) Foto: picture alliance/dpa

Sie hätte sagen können: »Hütet euch! Fürchtet euch vor den Menschen; ich weiß, wovon ich spreche …« Es wäre eine Wahrheit gewesen, und sie hätte diese Wahrheit beschwören können.

Sie sagte aber stattdessen: »Seid Menschen« und »Bleibt Menschen«.

Die Botschaft ihrer späten Lebensjahre hat uns die am Freitag vergangener Woche mit 103 Jahren verstorbene Margot Friedländer immer wieder und noch in ihren letzten Lebenstagen zugesprochen.

In wie vielen Schulen ist sie jungen Menschen begegnet, und wie oft entstand zwischen ganz Jung und ganz Alt jene geheimnisvolle Nähe, die Menschen zu bewegen, zu ändern vermag! Zuerst das Staunen der Jungen: Wie kann ein so zarter, körperlich schwacher Mensch so stark sein? Und dann: Wie viele werden sich gefragt haben, wo denn der Hass sei, den sie doch empfinden müsse gegenüber denen, die einst Mutter, Vater, den Bruder und so unendlich viele andere ermordet hatten.

Als ich mir selbst diese Frage stelle, habe ich mir die zwei Wirklichkeiten vorgestellt, die für die junge Margot Friedländer existierten. Die eine bestand in sehr realem Hass und Vernichtungswillen der Herrschenden und ihrer willigen Helfer. Die andere erlebte sie in der Solidarität und im Mut derer, die Helfer der Verfolgten waren. Es muss wohl ebendiese Wirklichkeit gewesen sein, die es ihr erlaubte, mit jener großen Menschenfreundlichkeit zu uns zu sprechen, wie sie es getan hat.

Sie war gekommen, auch, um »Hände zu reichen«

Als Margot Friedländer hochbetagt ihre New Yorker Heimat verließ, um in ihre ursprüngliche Heimat Berlin zurückzukehren, wusste sie noch nicht, dass ihre letzten Jahre glückliche Jahre sein würden. Sie war gekommen, auch, um »Hände zu reichen«. Sie hat dann hier viele Freunde aus unterschiedlichen Milieus gewonnen, hat teilgenommen an zahlreichen kulturellen und gesellschaftspolitischen Events, war oft zu Gast im Schloss Bellevue oder im Roten Rathaus, wurde dort als Ehrenbürgerin Berlins begrüßt und ist außerdem bundesweit mit zahlreichen Ehren und Preisen bedacht worden. Das alles hat sie mit Freude angenommen.

Ihre Stimme war nie laut, aber so leise wie eindringlich erreichte sie die Herzen der Menschen.

Aber wenn sie sagt: »Ich habe das Gefühl, mein Leben hat einen Sinn gemacht«, dann gibt es bei genauerem Hinsehen noch einen tieferen Grund für dieses Lebensgefühl.

Wenn die verstörende Wirklichkeit des Bösen in der Welt nicht zur letzten Wahrheit wird, sondern in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt und abgewehrt wird durch die ebenfalls sehr reale Wirklichkeit des Guten, dann gewinnen wir so etwas wie einen Schritt ans rettende Ufer, einen Überlebensschritt. Wir enden dann nicht im Gefängnis von Ohnmacht und Nihilismus, sondern erfahren uns selbst als befähigt zu Verantwortung, Mut und sogar zur Güte.

Es war die große Gabe dieser Frau, Menschen auf einen solchen Lebensweg einzuladen, gerade in Zeiten, in denen sich Inhumanität, Gewalt und Hass neu ausbreiten.

Ihr Blick war milde, aber ihre Botschaft klar

Dass sie Deutschland nicht vergaß, war für uns Deutsche ein Geschenk. Ihre Stimme war nie laut, aber so leise wie eindringlich erreichte sie die Herzen unzähliger Menschen. Ihr Blick war milde, aber ihre Botschaft klar: Nie wieder Gleichgültigkeit. Nie wieder Schweigen angesichts von Hass, Ausgrenzung oder Antisemitismus.

Lesen Sie auch

Mit dem Tod von Margot Friedländer verliert Deutschland eine der letzten lebenden Zeuginnen des Holocaust, eine großherzige Botschafterin der Menschlichkeit, eine starke Persönlichkeit, unvergesslich für alle Menschen, denen sie begegnete. Sie war eine Frau, die aus ihrer amerikanischen Wahlheimat nie hätte zurückkehren müssen – und wollte doch wieder unter uns leben. Sie kam nicht, um zu verurteilen, sondern um zu erinnern und zu mahnen.

So ist das Leben von Margot Friedländer nun am schönsten denkbaren Ziel angekommen, lebensbeglückt zu sterben – was für ein Segen!
Wir Beschenkten sagen aus tiefstem Herzen: DANKE.

Der Autor war von 2012 bis 2017 Bundespräsident und ist Mitglied des Vorstandes der Margot Friedländer Stiftung.

Berlin

Nietzard entschuldigt sich für Israel-Video

Erst vor wenigen Tagen sorgte die Grüne-Jugend-Chefin für Empörung. Der Beitrag wurde überarbeitet

 07.06.2025

Glosse

Gretas Törn

Wird es den zwölf Aktivisten, unter ihnen die Klima- und Palästina-Ikone Greta Thunberg, gelingen, Israels Seeblockade zu durchbrechen? Die Welt wartet gespannt

von Michael Thaidigsmann  06.06.2025

Bundestag

SPD-Rufe nach Prüfung von Waffenlieferungen an Israel lauter

Unterschiedliche Positionen zwischen Sozialdemokraten und Union werden immer deutlicher

 06.06.2025

Colorado

Angreifer von Boulder wollte »alle zionistischen Menschen töten«

Mohamed Sabry Soliman wird in 118 Punkten angeklagt

 06.06.2025

Rheinland-Pfalz

»Aus Beutebeständen« - NS-Raubgut in rheinland-pfälzischen Museen

Viele kleine Museen in Rheinland-Pfalz haben bisher nicht danach geforscht, ob NS-Raubgut in ihrem Besitz ist. In den Sammlungen von vier dieser mehr als 400 Museen sah eine Kunsthistorikerin nun genauer nach

von Norbert Demuth  06.06.2025

Washington D.C.

US-Regierung sanktioniert Richterinnen des Strafgerichtshofs

Amerika geht gegen den IStGH vor. Hintergrund ist auch der wegen angeblicher Kriegsverbrechen Israels ausgestellte Haftbefehl gegen Ministerpräsident Netanjahu

 06.06.2025

Berlin

Grüne-Jugend-Chefin nennt Hamas-Massaker »militärische Operation«

Jette Nietzard verharmlost den Terror der Hamas und verbreitet Verschwörungstheorien über Israel. Die JSUD verlangt ihren Rücktritt

von Imanuel Marcus  06.06.2025 Aktualisiert

Washington D.C.

Bundeskanzler Merz kritisiert Antisemitismus unter Migranten

Bei seinem Antrittsbesuch in Washington wird der Kanzler auf verschiedenste Themen angesprochen. Auch der Judenhass in der Bundesrepublik ist darunter

 06.06.2025

Interview

»Es findet ein Genozid statt« – »Israel muss sich wehren«

Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad über ihre langjährige Freundschaft, was sie verbindet – und was sie nach dem 7. Oktober 2023 trennt

von Philipp Peyman Engel  06.06.2025 Aktualisiert