Migration

Doppelt hält besser

Deutsche auf Bewährung: Jugendliche mit Doppelpass müssen sich mit 18 für eine Staatsangehörigkeiten entscheiden. Foto: Thinkstock / (M) Frank Albinus

Stellen Sie sich vor: Im Alter von 18 Jahren wird Ihnen von staatlichen Behörden auferlegt, sich zwischen Ihren Elternteilen zu entscheiden: Im Formular bitte Mutter oder Vater ankreuzen! So oder so ähnlich muss es zahlreichen jungen Menschen gehen, die in Deutschland geboren, mit zwei Pässen und oft in zwei Welten aufgewachsen sind und sich jetzt für eine einzige Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.

Denn trotz aller Bekenntnisse zur Vielfalt gilt in Deutschland weiterhin, dass die doppelte Staatbürgerschaft im Normalfall nicht gestattet ist. Erst mit der Volljährigkeit erfahren also immer mehr Jugendliche, dass sie bisher lediglich Deutsche auf Bewährung waren.

loyalitätskonflikte? Das Behördendeutsch ist unmissverständlich: Verlangt wird eine »Erklärung in Schriftform« nach Paragraf 29 Absatz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes, die ihrerseits nach einem behördlichen Hinweis gemäß Absatz 5 derselben Vorschrift vorzulegen ist. Bei Weigerung, sich auf den deutschen Pass festzulegen (Abs. 2) oder bei fehlendem Nachweis, dass die nichtdeutsche Staatsbürgerschaft abgelegt worden ist (Abs. 3), erlischt die deutsche Staatsbürgerschaft spätestens mit dem 23. Lebensjahr.

Mittlerweile stößt die merkwürdige Konstellation dieses sogenannten Optionsmodells nicht nur den Betroffenen sauer auf. Eine Prognose sieht schon 2018 bis zu 40.000 junge Menschen in der »Optionsklemme« stecken. Die Union hält dennoch an ihrer Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft fest. »Es gibt sonst Loyalitätskonflikte«, prophezeit der CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder, ganz so, als wäre er vor seiner Abgeordnetenwahl Psychiater und nicht Landrat gewesen. Auch die Kanzlerin erklärte beim letzten Integrationsgipfel, dass sie den Status quo befürworte.

Es ist müßig, gegen diese Vorbehalte zu argumentieren, indem man immer mehr Erfolgsmigranten präsentiert – hier ein promovierter Wladimir, dort eine Seyda im Richteramt. Wichtiger ist, zu fragen, was die Kauders und Merkels zu ihrer ablehnenden Haltung treibt. Denn offensichtlich trauen sie (oder ihre Wähler) vielen anderen in unserer Gesellschaft nicht zu, das zu bleiben, was sie längst geworden sind: mehr als nur Deutsche und dabei nicht weniger als vollwertige Bürger.

diversität Wir reden oft über Vielfalt, vergessen dabei aber, dass wir diese Vielfalt nicht nur um uns herum haben, sondern auch in uns selbst tragen. Es gibt eben eine äußere und eine innere Vielfalt. Mit der äußeren Vielfalt kommen immer mehr Menschen zurecht. Auch die konservativsten Politiker begreifen, dass unser gemeinsamer Alltag bunter, variabler, inklusiver geworden ist. Doch Vielfalt wird meist auf die Zustände um uns herum reduziert: Straßenzüge mit türkischen oder russischen Geschäftsinschriften, Nachrichtensprecher mit persisch oder italienisch anmutenden Namen.

Ausgeblendet wird dabei die innere Vielfalt – die mehrfachen Identitäten, die uns selbst ausmachen. Diese aber sind die zwangsläufige Folge der äußeren Diversität. Viele, etwa jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, nehmen neue Identitäten freiwillig an, andere, wie Kinder aus »ausländischen« oder binationalen Ehen, werden in diese innere Vielfalt hineingeboren. Und so entsteht ein Zusammenspiel zwischen uns und unserem Umfeld: Nicht nur leben wir vor dem Hintergrund bunter Lebenswelten, diese Welten leben auch in uns. Und machen uns aus.

Mit der eigenen inneren Vielfalt kommt man im Zweifel mithilfe eines guten Therapeuten zurecht. Doch keine Krankenkasse übernimmt die Therapiestunden zum Umgang mit der inneren Vielfalt der anderen. Der Verdacht auf multiple Zugehörigkeiten unserer »Mitbürger« löst bei uns immer noch Alarm aus. Diese Zugehörigkeiten werden als Makel, als Last oder als schwer widerlegbare Loyalitätsdefizite empfunden.

identitäten Wer sich mit Antisemitismus befasst hat, weiß: Die schlimmsten Vorbehalte entstehen, wenn die anderen und ihre Identitäten nicht als eigene oder fremde eindeutig einzuordnen sind. Der Forscher Klaus Holz erklärt judenfeindliche Ressentiments historisch damit, dass die Juden abseits der beiden gewohnten Kategorien »wir« oder »die anderen« existierten.

Dies machte Angst vor schwer einzuordnenden Identitäten und Loyalitäten. Vielleicht sind es ähnliche Unsicherheiten im Umgang mit Mehrdeutigem, die sich nunmehr gegen das Recht auf einen zweiten Pass richten. Wir können mit einem Menschen, der sich entweder für einen russischen oder einen deutschen Pass entscheidet, eben viel besser umgehen als mit jemandem, der beide hat.

Es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass es keine kulturelle Vielfalt ohne mehrfache Zugehörigkeiten und damit auch mehrfache Staatsbürgerschaften geben kann. Es ist Zeit, uns zum Recht eines jeden zu bekennen, in verschiedenen Welten zu leben. Mehrfache Staatsangehörigkeiten sind kein Privileg für andere, sondern eine Bereicherung für uns alle.

Denn nur, wer sich mehrfach zugehörig fühlt, kann alle Welten, in denen er zu Hause ist, offen und tiefgehend hinterfragen, kritisch vergleichen und kreativ verbessern. Das Recht auf einen Doppelpass würde sicher nicht alle Probleme lösen, aber ein Zeichen setzen, dass wir angekommen sind, wo die »Optionskinder« längst leben – in einem Land, das nicht zwischen, sondern in verschiedenen Welten gleichzeitig lebt und sich darüber freut.

Der Autor ist Anwalt und Publizist in Berlin. Er ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und kandidiert für den Bundestag.

Judenhass

Berlin-Kreuzberg: Antisemitische Parolen in Schule - Lehrerin angespuckt

Die Hintergründe

 04.11.2025

Meinung

Wenn deutsche Linke jüdische Selbstbestimmung ablehnen

In einer Resolution delegitimiert die Linksjugend Israel als koloniales, rassistisches Projekt. Dabei ist der Staat der Juden nicht zuletzt eine Konsequenz aus den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus

von Frederik Schindler  04.11.2025

Auswärtiges Amt

Deutschland entschärft Reisehinweise für Israel

Nach Beginn des Gaza-Krieges hatte das Auswärtige Amt vor Reisen in Teile Israels gewarnt. Dies gilt so nicht mehr. Der Außenminister begründet das mit gewachsenem Vertrauen in den Friedensprozess

 04.11.2025

Würdigung

Margot Friedländer wird mit Sonderbriefmarke geehrt

Wie das Finanzministerium mitteilte, war die Sonderbriefmarke für Friedländer ein »besonderes Anliegen« von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil

 04.11.2025

Jerusalem

Nach Eklat in Jerusalem: Westfälische Präses setzt auf Dialog

Projekte, Gedenkorte und viele Gespräche: Die Theologin Ruck-Schröder war mit einer Delegation des NRW-Landtags fünf Tage in Israel und im Westjordanland. Angesichts der Spannungen setzt sie auf dem Weg zur Verständigung auf Begegnungen und Dialog

von Ingo Lehnick  04.11.2025

Gedenkstätten

Gedenkzeichen für jüdische Ravensbrück-Häftlinge

Zur feierlichen Enthüllung werden unter anderem Zentralratspräsident Josef Schuster, die brandenburgische Kulturministerin Manja Schüle (SPD) und der Beauftragte für Erinnerungskultur beim Kulturstaatsminister, Robin Mishra, erwartet

 03.11.2025

Innere Sicherheit

Dschihadistisch motivierter Anschlag geplant: Spezialeinsatzkommando nimmt Syrer in Berlin-Neukölln fest 

Nach Informationen der »Bild« soll der Mann ein Ziel in Berlin im Blick gehabt haben

 02.11.2025 Aktualisiert

Interview

»Wir hatten keine Verwandten«

Erst seit einigen Jahren spricht sie über ihre jüdischen Wurzeln: Bildungsministerin Karin Prien erzählt, warum ihre Mutter davon abriet und wann sie ihre eigene Familiengeschichte erst begriff

von Julia Kilian  02.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Ich kann euch nicht hören

Während im Sudan die schwerste humanitäre Krise der Welt tobt, schweigen die selbst ernannten Menschenrechts-Demonstranten in Europa und auf der Welt

von Sophie Albers Ben Chamo  02.11.2025