Nach dem tödlichen Anschlag auf eine Chanukkafeier in Sydney kommt bei vielen Jüdinnen und Juden weltweit Trauer und Empörung auf: Wie konnte so eine Bluttat geschehen? Zum Thema Sicherheit äußert sich der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, im Interview. Er spricht auch über Chanukka-Feiern in Deutschland und was Zivilcourage konkret bedeuten kann.
Herr Klein, können Sie die Empörung und Wut bei vielen Jüdinnen und Juden zum Beispiel wegen fehlender Sicherheitsmaßnahmen nach Anschlägen wie in Sydney verstehen?
Ja natürlich, ich kann das absolut nachvollziehen. Solche Anschläge zeigen eliminatorischen und grausamen Antisemitismus: Die Täter bringen Juden um, weil sie Juden sind. Vielen ist nicht klar, dass grassierender Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft ein Ausgangspunkt dafür ist, dass sich Menschen radikalisieren.
Welche Folgen hat das?
Juden kritisieren, dass nicht genug gegen Antisemitismus getan wird. Ein weiteres Problem ist die häufig fehlende Solidarität mit Opfern, die schon nach dem Massaker des 7. Oktobers 2023 auch in Deutschland zu beobachten war. Gleichwohl sehe ich aktuell nach dem Anschlag von Sydney durchaus Anteilnahme und Solidarität in Teilen der Gesellschaft, wohl auch, weil er so erschreckend grausam war. Ich schätze es sehr, dass die palästinensische Autonomiebehörde und muslimisch geprägte Länder ihr Entsetzen kundgetan haben. Es ist gefährlich, wenn in manchen Ländern massiv Stimmung gegen Israel gemacht wird - die Folgen haben wir bei der Chanukka-Feier in Australien gesehen.
Es gab Vorwürfe gegenüber der australischen Regierung und Behörden, sie hätten Gefahren unterschätzt.
Nach allem, was ich höre, waren die jüdischen Communitys schon länger besorgt über die Stimmung im Land und haben dies auch kommuniziert. Zwar sind diesbezüglich die Mittel einer Regierung begrenzt, aber es wird sicherlich spätestens jetzt eine Debatte über das Thema Sicherheit geben.
Jüdinnen und Juden auch in Deutschland kritisieren, dass Worten etwa aus der Politik zu Sicherheit und Wertschätzung jüdischen Lebens oft keine konkreten Taten folgten.
Zunächst finde ich es wichtig, dass Politiker sich deutlich zu jüdischem Leben und zu dessen Sicherheit bekennen. Das zeigt die grundsätzliche Haltung der politischen Führung. Allerdings müssen sich Gesellschaft und Politik fragen, ob das, was sie tun, wirklich ausreichend ist. Auch wenn das Ziel des Terrors jüdisches Leben ist, richtet er sich gegen die Gesellschaft als Ganzes.
Was braucht es aus Ihrer Sicht besonders?
Zum Beispiel muss der Volksverhetzungsparagraf verschärft und der Aufruf zur Vernichtung anderer Staaten unter Strafe gestellt werden. Viel stärker als bisher muss im Internet Hass und Hetze entgegengewirkt werden. Da sind Instrumente noch unterentwickelt. Es braucht mehr Anlaufstellen für Betroffene. Opfer müssen stärker in den Blick genommen werden. Und ja, es gibt durchaus Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen.
Häufig wird vonseiten der Politik Zivilcourage gefordert. Nicht jeder kann so handeln wie der Mann in Sydney, der einen der Täter überwältigt hat. Was kann man im Alltag tun?
Dazu gehört, dass man den Mut haben sollte, die Harmonie einer Familien- oder Betriebsfeier zu stören, wenn dort antisemitische Narrative bedient werden. Man muss informiert sein. Kritik an der israelischen Regierung oder Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist natürlich völlig legitim, aber man sollte ein Gefühl für die roten Linien hin zum Antisemitismus entwickeln. Wenn in der U-Bahn »Juden raus« krakeelt wird oder wenn es um Israel als solches geht, sollte man klar zeigen, dass man nicht einverstanden ist.
Auch das erfordert Mut. Oft helfen Umstehende nicht, wenn jemand, der Zivilcourage zeigt, selbst angegriffen wird.
Man kann sich zum Beispiel um Unterstützung unter anderen Fahrgästen bemühen, damit man nicht alleine ist. Niemand muss sich zum Helden machen. Schweigen signalisiert jedoch Zustimmung. Wenn jemand beleidigt wird, ist es für diese Person hilfreich, wenn ihr jemand zur Seite steht und damit Empathie zeigt. Das kann jeder machen. Oder nach einem Vorfall zur Polizei gehen, denn in öffentlichen Verkehrsmitteln zeichnen Kameras alles auf.
Nach dem Anschlag in Sydney mahnt Israel seine Bürgerinnen und Bürger zu Vorsicht im Ausland.
Das ist besorgniserregend, wenn solche Hinweise von israelischer Seite gegeben werden. Ich höre aus der jüdischen Community in Deutschland, dass sie sich in Synagogen zwar sicher fühlen, aber nicht auf dem Weg dorthin. Es muss uns absolut zu denken geben, wenn israelischen Bürgern geraten wird, Orte ihrer religiösen Identität zu meiden. Der Staat hat die Grundrechte aller Menschen zu sichern. Nach meinen Beobachtungen ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland insgesamt zufrieden mit Polizei und Verfassungsschutz, denn antisemitische Straftaten werden häufiger als früher angeklagt, und es kommt auch häufiger zu Verurteilungen. Das alles ist aber ein mühsamer Prozess.
Wie könnten Wege zur Synagoge sicherer werden?
Ich glaube, die Frage ist, wie wir die Bewegung im öffentlichen Raum für Jüdinnen und Juden insgesamt sicherer machen. Denn ansonsten droht als Folge, dass jüdisches Leben wieder unsichtbar wird und Juden aus Sicherheitsgründen oft erst in der Synagoge ihre Identität offen zeigen, etwa durch das Tragen einer Kippa oder einer Kette mit Davidstern. Das dürfen wir nicht zulassen. Ich betone: Die jüdische Bevölkerung möchte nichts Besonderes, sondern Selbstverständlichkeiten. Wenn ihre Lebensqualität eingeschränkt wird, sollte das zu Empörung führen. Hier muss beharrlich aufgeklärt werden. Auch braucht es einen noch besseren Informationsfluss zwischen Polizei und Verfassungsschutz, wenn es Hinweise auf Tatverdächtige gibt.
Was sagen Sie Jüdinnen und Juden in Deutschland, die öffentlich Chanukka feiern wollen? Das Fest dauert ja noch an.
Es ist wichtig, sich nicht einschüchtern zu lassen. Ich bin sehr froh, dass es bisher keine Absagen von öffentlichen Feiern gibt und die Polizei Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren hat. Chanukka ist das Fest der Hoffnung, und es wäre mein großer Wunsch, dass das auch weiterhin so begangen wird.