Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, beklagt eine gefährliche Gewöhnung an ein sehr hohes Niveau von Antisemitismus in Deutschland. Das seien »unhaltbare Zustände«, sagt Schuster im Interview der Deutschen Presse-Agentur nach dem Terroranschlag von Australien, bei dem zwei Männer 15 Menschen erschossen.
Herr Schuster, der Gaza-Konflikt ruht seit einigen Wochen. Stellt sich auch für die jüdischen Gemeinden in Deutschland eine Beruhigung ein?
Davon kann leider keine Rede sein. Der Antisemitismus ist in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 explosionsartig angestiegen. Alle Zahlen deuten darauf hin, dass wir in diesem Jahr eine Verstetigung auf einem hohen – einem viel zu hohen – Niveau erleben. Viel schlimmer: Mein Gefühl ist, dass wir in unserer Gesellschaft einen Gewöhnungs- und Normalisierungseffekt für den Antisemitismus erleben. Das darf nicht sein.
Zeitweise schien ein Dialog der jüdischen mit den palästinensischen Communitys fast unmöglich. Sehen Sie die Chance auf einen neuen Gesprächsfaden?
Verständigung und ein gutes Zusammenleben in Deutschland sind ohne Dialog undenkbar, das ist völlig klar. Die Frage ist aber: Worüber sprechen wir? Das Existenzrecht Israels etwa ist für mich überhaupt nicht verhandelbar. Ich kann nicht mit Menschen in einen Dialog treten, die eine Dämonisierung des israelischen Staats zur Bedingung für Juden machen wollen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Nach dem starken Anstieg bei registrierten antisemitischen Vorfällen und Straftaten wird der Kampf gegen Antisemitismus politisch häufig thematisiert. Hilft das eigentlich?
Im Jahr 2000 hat mein Amtsvorgänger Paul Spiegel den ‚Aufstand der Anständigen‘ ins Leben gerufen, um gegen Judenhass aufzustehen. Wenn ich mich heute umblicke, muss ich feststellen: Entweder, die Anständigen sind deutlich weniger geworden, oder sie bleiben untätig auf den Zuschauerrängen sitzen. Was passiert, wenn die politische Rückendeckung fehlt, haben wir in Sydney gesehen, wo die australische jüdische Gemeinschaft sich schon lange im Stich gelassen fühlte. Aber Zivilcourage lässt sich nicht politisch verordnen. Es braucht einen neuen ‚Aufstand der Anständigen‘.
Der Terroranschlag von Bondi Beach verdeutlicht die große physische Gefahr für Judenin aller Welt. Müssen die Sicherheitsmaßnahmen in Deutschland verstärkt werden?
Nach dem Attentat in Sydney sehen wir, dass die Sicherheitslage für Juden in Deutschland vergleichsweise gut ist. Das Problem ist im Kern ein anderes: Wir haben beim Antisemitismus einen Grad der Gewöhnung erreicht, der so hoch ist, dass politische Maßnahmen sich häufig im Schutz jüdischen Lebens erschöpfen. Es wird vielfach hingenommen, dass jüdisches Leben eben nur unter immensen Schutzanstrengungen möglich ist. Was wir erleben, ist Symptombekämpfung, nichts weiter. Trotz der Schutzmaßnahmen, für die ich dankbar bin, muss ich deshalb sagen: Diese Zustände sind unhaltbar. Politik und Zivilgesellschaft müssen zusammenwirken, um endlich die Ursachen des Judenhasses anzugehen. Dann, und nur dann, ist die Vision jüdischen Lebens ohne Schutzschild denkbar. Und diese Vision vertrete ich weiterhin mit aller Kraft.
Das Interview führte Verena Schmitt-Roschmann.