Standpunkt

Die Realitäten erkennen

Pädagogen und Schüler müssen sensibilisiert werden, um sich gegen Antisemitismus einzusetzen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Es ist heute leider Realität, dass es an fast allen Schulen – angefangen von den Grundschulen bis hin zum Gymnasium – antisemitische Vorfälle verschiedenster Art gibt. Das habe ich persönlich bei Besuchen in Schulen erlebt, aber auch bei Besuchen von Klassen in unserer Gelsenkirchener Synagoge.

Dabei habe ich festgestellt, dass sowohl Schüler als auch Lehrer oftmals nicht zu wissen scheinen, was eigentlich genau antisemitisch ist. Wissen wirklich alle, was die »88« auf einem T-Shirt bedeutet? Wird der Hitlergruß überhaupt erkannt und dann auch als strafbar gewertet? Hinzu kommt: Wenn die Lehrkräfte antisemitische Vorfälle in ihren Klassen mitbekommen, sind sie oftmals hilflos, und wissen nicht, wie sie sich richtig verhalten sollen. Unter den Teppich kehren oder offen ansprechen?

Ansehen Für die Schulen kann es oftmals auch eine Frage des Ansehens sein, und so wird vermutlich auch einiges an antisemitischen Vorfällen gar nicht erst zur Sprache gebracht. Dies wiederum kann dazu führen, dass weitere antisemitische Vorfälle an der betroffenen Schule unbeachtet bleiben. Fest steht: Es ist absolut wichtig, dass Antisemitismus auf jeden Fall immer sofort und konsequent bekämpft wird.

Deswegen denke ich, dass eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle nicht nur die betroffenen Kinder und Jugendlichen besser unterstützen kann, sondern auch dabei helfen kann, ein großes Dunkelfeld zu erhellen.
Wir müssen uns bewusst werden, dass Kinder und Jugendliche sehr unter Antisemitismus leiden, denn Anfeindungen gegen die eigene jüdische Identität beschädigen das Selbstbewusstsein. Kinder sollen ohne Angst leben können!

Unser Jugendzentrum hat Antisemitismus in seinem Jewro-Video thematisiert.

Auch in Gelsenkirchen haben jüdische Kinder und Jugendliche in den Schulen traurige Dinge erlebt. Sie wurden bedroht oder beschimpft. Oftmals trauen sich die Schüler gar nicht mehr, zu sagen, dass sie jüdisch sind.

Der Aufmarsch von knapp 200 hasserfüllten Menschen im Mai 2021 vor der Synagoge, unter denen auch einige Schüler aus Gelsenkirchener Schulen waren, ist so ein Vorfall, und er hat zur großen Verunsicherung unserer Kinder beigetragen. Es geht sogar so weit, dass uns manchmal Schülerinnen und Schüler bitten, die Note aus dem jüdischen Religionsunterricht in unserer Synagoge nicht an die Schule für das Schulzeugnis zu übertragen, aus Sorge, ihre jüdische Identität könnte bekannt werden.

Taten Ich plädiere auch deshalb für die Schaffung zentraler Stellen, bei denen alle Meldungen eingehen, um den Schulen zu helfen. Man kann zeitnah Konzepte erarbeiten, in denen festgehalten wird, wie man pädagogisch angemessen mit diesen grenzüberschreitenden Äußerungen oder Taten umgehen kann.

Dabei muss der Schutz der Betroffenen im Vordergrund stehen. Fragen wie »War es eine spontane Aktion?« oder »Gibt es bereits verfestigte antisemitische Einstellungen bei den Schülern?« müssen geklärt werden. Entsprechend sollte die fachliche und pädagogische Herangehensweise sein.

Der Schutz der Betroffenen muss im Vordergrund stehen.

Ein paar weitere Dinge sollten beachtet werden: Unter Umständen muss zum Beispiel das Thema Antisemitismus auch generell in der Klasse angesprochen werden. Die Eltern sollten in diesen Prozess mit einbezogen werden. Eine konsequente und erfolgreiche Umsetzung erfordert zudem eine besondere Sensibilisierung und Fortbildung der schulischen Verantwortlichen für Prävention und Intervention bei antisemitischen Vorfällen.

Die pädagogischen Fachkräfte müssen davon überzeugt werden, dass jedwede antisemitische Äußerung in der Schule sofort gemeldet werden muss, und mithilfe externer Stellen werden sie dann dabei unterstützt, wieder Frieden in die Klassen zu bringen. Und dazu müssen rechtliche Rahmen für Sanktionen geschaffen und dann auch ausgeschöpft werden. Alle müssen es doch endlich verstehen: Antisemitismus zerstört unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und betrifft damit alle Bürger.

Einzelfälle In dem Bewerbungsvideo für die Jewrovision dieses Jahr in Frankfurt haben unsere Jugendlichen in einem Song ausgedrückt, wie sehr sie das Thema bedrückt, und es macht mich sehr betroffen, wenn ich diese Liedzeilen lese und höre:

»Schoa vorbei, Vorhang zu, Schoa nicht mehr relevant, Judenhass nur Einzelfälle – interessant. Egal, ich bin aus Stein, ich weinʼ nicht drum, doch wenn ich alleine bin, dann weinʼ ich drum. Leben als ein Jude, ist doch alles fein, da, wo alle beten, muss man sicher sein.
Sie sagen, es war mal schlimmer, wurde schon viel erreicht. Ich habe gelernt, dass man nicht diesen Schmerz mit Schmerz vergleicht. Ich war in Israel, doch jetzt bin ich wieder da. Denn auch dort Sirenen, Schüsse, keiner weiß, wohin. Ich war stark, auch wenn keiner mich das fragt. Deutschland niemals meine Heimat, weil ich anders bin. Ich weiß nicht, wie das Ganze anfing, alles, was ich wissen will, wann hört es denn auf, sag mir, wann hört es denn auf? Wann werde ich akzeptiert, Mann, ich will doch nur leben, so wie jeder andere auch! Sch…-juden-Gerufe vor der Synagoge, rechte Hetze und Parolen, so wie unter Droge. Wieder Terroranschlag in Jerusalem, nein, kein Einzelfall, und nicht aus Versehen. Müssen die Geschichte ändern, du und ich zusammen, bitte reich mir deine Hand, bitte reich mir deine Hand.«

Dieser Videobeitrag, der den ersten Preis der Jewrovision gewonnen hat, geht einem wirklich ans Herz. Und er verpflichtet geradezu, mit allen Mitteln dafür Sorge zu tragen, dass dem Antisemitismus an unseren Schulen endlich ernsthaft mit Maßnahmen und Konzepten begegnet wird.

Judith Neuwald-Tasbach war von 2007 bis 2023 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.

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