Kontroverse

Ach, die Gene

Ein Demagoge? Thilo Sarrazin bei der Vorstellung eines seiner Bücher (2010) Foto: ddp

Der inzwischen nicht nur in Deutschland, sondern auch international berüchtigte Rechtspopulist Thilo Sarrazin hat erneut für republikweiten Wirbel gesorgt. Anlass war die Veröffentlichung eines Buches, in dem er vor einer feindlichen Übernahme Deutschlands durch die von ihm zum Hauptgegner ernannten Moslems warnt. Dafür wurde Sarrazin von allen maßgeblichen demokratischen Kräften verurteilt, darunter auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Damit ist die Affäre aber keinesfalls ausgestanden. Nicht zuletzt gilt es, vor dem in Sarrazins Äußerungen immer unverhüllter zutage tretenden Rassismus zu warnen. Nicht, dass Demagogie bei Sarrazin noch überraschend wäre, doch drohen die Thesen des sich in den Schafspelz der Respektabilität hüllenden Extremisten die politische Debatte über Immigration und Integration zu belasten und viele Gemüter zu vergiften.

Nach Sarrazins Meinung stellen die aus der islamischen Welt stammenden Migranten in Deutschland eine Belastung des »europäischen Gen-Pools« dar. Das sieht er als Bedrohung, sind doch Immigrantengruppen wie Türken und Araber in seinen Augen eine Gefahr für die europäische Zivilisation. Juden wiederum, erklärt der Provokateur, hätten »ein bestimmtes Gen«. Könnte es im vorliegenden Fall als Kompliment gemeint sein? Schließlich hat Sarrazin vor einigen Monaten die erfolgreiche Integration zugewanderter Juden in die deutsche Gesellschaft gewürdigt.

Unsinn Genau an dieser Stelle müssen wir als Bürger der deutschen Demokratie und als Juden die Notbremse ziehen und solchem »Gedankengut« eine klare Absage erteilen. Wer nämlich über ganze Völker nach ihrem (vermeintlichen) Erbgut urteilt, erliegt einem Rassenwahn, der gegen die Menschenwürde verstößt und vom Judentum zurückgewiesen wird. Dass solches Denken auch in wissenschaftlicher Hinsicht Unsinn ist, muss kaum erwähnt werden. Wenn beispielsweise die Araber vom Schicksal mit einem so niedrigen Entwicklungsstand geschlagen wären, wie Sarrazin erkannt zu haben glaubt, hätten sie vor eintausend Jahren keine blühende Kultur mit einer hoch entwickelten Wissenschaft und Philosophie geschaffen, von deren Früchten die angeblich überlegene Zivilisation Europas bis heute zehrt.

tatsachen Auch Sarrazins vermeintlich positive Meinung über die Juden vermag nicht zu überzeugen. Gewiss, Genetik ist ein interessantes und legitimes Gebiet der Wissenschaft. Das gilt auch für die Erforschung des genetischen Ursprungs der Juden. So etwa haben Untersuchungen nicht erst jetzt gezeigt, dass Juden als Bevölkerungsgruppe einen gemeinsamen geografischen Nenner haben und bereits vor mehreren Tausend Jahren im Nahen Osten lebten. Auch ist es trotz jüngst sensationell aufgemachter Berichterstattung keine wirkliche Neuigkeit mehr, dass die meisten Juden in der Welt einander genetisch näher stehen als den Völkern, in deren Mitte sie leben. Das bestätigt wichtige historische Tatsachen – etwa den engen Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft in der Diaspora –, macht aber eben nicht das Wesen des Judentums aus.

Im Gegenteil: Bereits in einer frühen Phase der Geschichte haben die Juden die genetische Festlegung des Volkes Israel abgelegt. Das Judentum definiert sich nicht über seine »Blutsbande«, sondern über seine Zivilisation, seinen Glauben und seine Kultur. Das jüdische Volk steht von jeher jedem offen, der sich ernsthaft seinen Werten, seiner Religion und seiner Schicksalsgemeinschaft anschließen will. Bereits der Tanach berichtet über Moses’ Schwiegervater Jitro, der sein Amt als Hoherpriester von Midian aufgab und zum Judentum übertrat. Oder von der Moabiterin Rut, die Jüdin wurde. Im Laufe der Geschichte haben sich sowohl Einzelne als auch ganze Volksgruppen dem Judentum angeschlossen. Hautfarbe, Rasse oder die Zugehörigkeit zu irgendeinem »genetischen Pool« haben dabei keine Rolle gespielt. Nach jüdischer Tradition haben die Seelen der Konvertiten aller künftigen Zeiten zusammen mit den Seelen aller anderen Juden bei der Verleihung der Tora am Berg Sinai gestanden. Auch das macht klar, dass die Grundlage des jüdischen Volkes geistiger und nicht naturdarwinistischer Natur ist.

Plump Wohlgemerkt ist es legitim, nach einer Erklärung für die Tatsache zu suchen, dass Juden in vielen Ländern zu den erfolgreicheren Bevölkerungsgruppen gehören. In diesem Zusammenhang kann man auf die jüdische Lerntradition und die offene Debatte als Grundform religiösen Denkens hinweisen. In reger, oft kontroverser Diskussion ist denn auch der Talmud entstanden, der jüdisches Denken nachhaltig geprägt hat. Wer all das plump auf Erbgut reduziert, entblößt seine eigene Voreingenommenheit und sollte es, anstatt mit Vorurteilen, mit Lernen und Denken versuchen. Ein »bestimmtes jüdisches Gen« ist dafür – garantiert – nicht erforderlich.

Der Autor ist Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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