Warschau

50 Jahre Kniefall Brandts

Das Denkmal der Ghetto-Helden von Natan Rapaport zum Gedenken an das Warschauer Ghetto vor dem Museum der Geschichte der Polnischen Juden Foto: imago/IPON

In den vergangenen Jahrzehnten haben etliche Bundespräsidenten, Kanzler und deutsche Außenminister um Vergebung für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gebeten.

Eine Geste jedoch stellt alles in den Schatten, was je über die deutsche Schuld und die Sühne für die Nazi-Gräuel gesagt wurde: Am 7. Dezember 1970 fiel der damalige Bundeskanzler Willy Brandt am Denkmal für die Helden des jüdischen Ghettos in Warschau auf die Knie, um der Millionen Opfer der Hitler-Diktatur zu gedenken. 

Das Bild wurde zu einer Ikone der Nachkriegszeit, zum bis heute stärksten Symbol des Versöhnungsprozesses zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Kriegsgegnern. Es ist in Geschichtsbüchern weit über Deutschland und Polen hinaus zu finden.

Am Montag jährt sich der Kniefall zum 50. Mal. Er wird mit mehreren Veranstaltungen gewürdigt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnert an das historische Ereignis mit einer Rede im virtuellen Raum. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans reist nach Warschau, um am Ort des Kniefalls einen Kranz niederzulegen.

Denkmal Heute steht in der Nähe des Denkmals, vor dem Brandt einst kniete, der futuristische grüne Bau des Museums der Geschichte der polnischen Juden. 1970 war der Platz um das Denkmal groß und leer, an manchen Stellen noch gesäumt von Kriegsruinen. 

Der Journalist und Deutschlandkenner Adam Krzeminski erlebte Brandts Geste hier als junger Reporter. »Ein paar hundert Leute standen in Reihen um Brandt herum. Ich war zu weit hinten, sah nur plötzlich den Kopf des Kanzlers abtauchen und wusste nicht, worüber die Menschen alle sprachen«, erinnert er sich heute. Richtig beeindruckt sei er zunächst nicht gewesen. »Gewirkt hat später die Ikone des Bildes.«

Von der Geste wurden damals selbst die engsten Berater Brandts überrascht. Egon Bahr, damals Staatssekretär im Kanzleramt, verpasste den Kniefall, obwohl er nur wenige Meter entfernt stand. Er sei erst darauf aufmerksam geworden, als es plötzlich still wurde und jemand flüsterte: »Er kniet«, erzählte Bahr später.

Spontanität Brandt selbst hat stets beteuert, dass die Geste spontan war. »Ich hatte nichts geplant, aber Schloss Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen«, schrieb er in seinen Erinnerungen. »Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.«

In Polen entfaltete die Geste allerdings zunächst kaum Wirkung. Das lag auch daran, dass die Staatsmedien sie ignorierten. Das kommunistische Parteiorgan »Trybuna Ludu«, damals eine der auflagenstärksten Zeitungen in Polen, und andere polnische Medien erschienen am nächsten Tag ohne das Foto vom Kniefall. Später wurde es häufig so geschnitten, dass man nicht sehen kann, ob der Kanzler steht oder kniet. 

»Brandts Geste kam der kommunistischen Führung nicht gelegen«, erklärt der Historiker Krzysztof Ruchniewicz, Direktor des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Wroclaw (Breslau). Seit Kriegsende hätten die Kommunisten den Polen beigebracht, dass die bösen Deutschen im Westen seien - diese Propaganda habe man nicht von einem Tag auf den anderen umstellen können. Auch habe es der Führung nicht gepasst, dass Brandts Kniefall vor dem Denkmal am jüdischen Ghetto stattfand. Denn nach dem Sechstagekrieg im Nahen Osten verunglimpfte die kommunistische Partei in Polen ab 1967 die Juden als »imperialistisch-zionistische Kolonne« und zwang viele zur Emigration.

Yad Vashem Historiker sind sich bis heute uneins, wem Brandts Geste vor allem gewidmet war. In erster Linie den im Holocaust ermordeten Juden? Oder den polnischen Opfer insgesamt? »In Polen wird der Kniefall als Geste gegenüber den zivilen Opfern unter den polnischen Staatsbürgern wahrgenommen«, sagt Ruchniewicz. Ähnlich sieht dies der Journalist Krzeminski. Brandt sei nicht in Yad Vashem in Jerusalem niedergekniet, sondern in Warschau, schreibt er in der neuesten Ausgabe des Magazins »Polityka«. 

Er verweist darauf, dass die Geste im Zusammenhang mit dem Vertrag über eine Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen stand, der am selben Tag unterzeichnet wurde. Darin erkannte Deutschland die Oder-Neiße-Linie faktisch als Westgrenze Polens an - und verzichtete damit auf ein Drittel des deutschen Territoriums vor dem Krieg zugunsten Polens.

Unter anderem deswegen traf der Kniefall Brandts damals in Deutschland nicht nur auf Zustimmung. Die Entspannungspolitik Willy Brandts gegenüber Moskau, der DDR und den Staaten des Warschauer Pakts spaltete das Land. Nach einer »Spiegel«-Umfrage hielten 48 Prozent den Kniefall für überzogen und nur 41 Prozent für angemessen. 

Inzwischen besteht eine deutlich größere Einigkeit in Deutschland über die Bedeutung der Geste Brandts für die deutsche Nachkriegsgeschichte. »Dieser Kniefall von Willy Brandt ist tatsächlich die zentrale Geste, das zentrale Bild des Versöhnungsprozesses zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Kriegsgegnern«, sagt der Berliner Historiker Paul Nolte. 

Kommentar

Europa ist im Nahen Osten bedeutungsloser denn je

Während die USA unter Präsident Donald Trump keinen Zweifel darüber haben aufkommen lassen, wo es steht, hat Europa komplett versagt

von Daniel Neumann  13.10.2025

Gaza

Hamas kündigt Fortsetzung des Terrors gegen Israel an

Die Hamas will Israel weiterhin zerstören und einen islamischen Staat errichten

 13.10.2025 Aktualisiert

Berlin

Merz: »Der Krieg in Gaza ist zu Ende«

Der Kanzler würdigt den 13. Oktober als historischen Tag. Er hofft nun, dass von der Waffenruhe im Gazastreifen auch ein Signal in ein anderes Kriegsgebiet ausgeht

 13.10.2025

Nahost

Trumps Triumph in Nahost: wie ihm das gelang

Er versprach, schnell den Ukraine-Konflikt zu lösen - doch daran beißt sich US-Präsident Trump bislang die Zähne aus. Nun gelang ihm aber der Durchbruch im Gaza-Krieg. Wie hat Trump das gemacht?

von Andrej Sokolow, Anna Ringle  13.10.2025

Prognose

Beauftragter Klein erwartet nach Waffenruhe Rückgang von Judenhass

Hoffnung über Gaza hinaus: Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes schätzt, dass mit der Waffenruhe auch der Judenhass in Deutschland abnimmt. Gleichzeitig brauche es Präventionsarbeit

 13.10.2025

Israel

Donald Trump vor der Knesset: Lob, Preis und Dank

Es war ein Empfang nach seinem Geschmack: Fast zeitgleich zur Freilassung der israelischen Geiseln in Gaza kam Donald Trump für ein paar Stunden nach Israel - und sprach zur Knesset

von Michael Thaidigsmann  13.10.2025

Stimmen

Erleichterung über Geisel-Freilassung - »Wechselbad der Gefühle«

Nach 738 Tagen sind die noch verbliebenen lebenden israelischen Geiseln von der Terrororganisation Hamas freigelassen worden. Unter die Freude über ihre Rückkehr mischt sich auch die Trauer um die Getöteten

von Niklas Hesselmann  13.10.2025

Meinung

Neues Semester, alter Antisemitismus?

Seit zwei Jahren sind deutsche Hochschulen keine sicheren Orte mehr für jüdische Studierende. Es wird viel Mühe kosten, diese Entwicklung zurückzudrehen

von Ron Dekel  13.10.2025

Nach Freilassung

Zentralrat der Juden: Geisel-Rückkehr Beginn eines Heilungsprozesses

Unter die Freude über die Freilassung der lebenden Geiseln mischt sich beim Präsidenten des Zentralrats auch die Trauer über die getöteten. Dieser Tag bedeute auch noch keine Rückkehr zur Normalität

von Niklas Hesselmann  13.10.2025