Yulya Rabinowitsch

Wien: Niemand hat geholfen

Yulya Rabinowitsch Foto: imago images/Rudolf Gigler

Ein Rabbiner wurde mitten in Wien auf offener Straße angegriffen. Die Angreiferin war mit einem Messer bewaffnet und schrie antisemitische Parolen. Was genau zu der Attacke geführt hat, ist noch nicht klar, die Täterin befindet sich auf freiem Fuß.

Hintergrund Die Polizei gibt an, dass derzeit kein islamistischer Hintergrund angenommen werde. Und was ist mit dem rechtsextremen Hintergrund? Ist dieser nicht erwähnenswert? Und warum ist das so? Man weiß also noch wenig über sie: ungefähr 50 Jahre alt und mit einem grauen Mantel bekleidet. Alles andere ist verborgen.

Was man aber jetzt schon festhalten kann: Laut Bericht stand offenbar niemand dem Opfer zur Seite. Niemand half. Niemand mischte sich ein. Diese Vorstellung ist es, die mich ebenso entsetzt wie die Tat selbst – in einer gewissen Art sogar ein bisschen mehr. Man hat also gehört, wie diese Frau »Schlachtet alle Juden!« rief.

Kippa Man sah zu, wie sie ein Messer zog. Sah, wie sie auf den Rabbiner zutrat, sah die Kippa von seinem Kopf fallen. Und sah dann weg. Wie viele dachten sich wohl in dieser Situation: Es geht mich nichts an? Und wie viele dachten sich: Es ist mir wurscht, total egal, es ist ein Jude?

Wie viele dachten sich wohl in dieser Situation: Es geht mich nichts an? Und wie viele dachten sich: Es ist mir wurscht, total egal, es ist ein Jude?

Ich frage mich, während ich diese Nachrichten lese: Hätte ich vor ein paar Jahren angenommen, dass jemand denkt: »Es ist ein Jude, es ist mir wurscht«? Es macht mir Sorgen, dass ich so denken kann. Und es mir dabei nicht völlig absurd vorkommt. Die Tat einer Einzelnen ist schlimm. Das Gewährenlassen der vielen ist gefährlich.

Wo ist die Zivilcourage geblieben? Und wo wird als Nächstes weggesehen? Die Tat wurde im ganzen Land breit verurteilt. Das ist wichtig. »So sind wir nicht«, hat Präsident Van der Bellen schon vor einiger Zeit in einer Ansprache nach dem Ibizavideo-Skandal festgehalten. »So ist Österreich einfach nicht, aber das müssen wir alle gemeinsam beweisen.« Zumindest in diesem Augenblick, an diesem Ort waren einige ganz genau so. Leider.

Die Autorin ist Schriftstellerin in Wien.

Kommentar

Politisches Versagen: Der Israelhasser Benjamin Idriz soll den Thomas-Dehler-Preis erhalten

Wer wie der Imam den 7. Oktober für seine Diffamierung des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft instrumentalisiert, ist eines Preises unwürdig

von Saba Farzan  28.10.2025

Meinung

Antisemitismus der Anständigen

Judenhass in der Schweiz ist brandgefährlich, weil er so höflich und diskret daherkommt

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.10.2025

Meinung

Die SP im moralischen Blindflug

Mit zwei widersprüchlichen Resolutionen beweist die Sozialdemokratische Partei der Schweiz einmal mehr ihre ethische Orientierungslosigkeit

von Nicole Dreyfus  27.10.2025

Meinung

Warum die UNRWA seit 77 Jahren den Frieden in Nahost blockiert

Das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser verursacht erhebliche Probleme. Daher gibt es nur einen Weg

von Jusek Adlersztejn  27.10.2025

Meinung

Die Kälte der »Sozialreform«

Für die Haushaltslücken lässt die Bundesregierung wieder einmal die Schwächsten der Gesellschaft büßen. Jüdische Rentnerinnen und Rentner werden besonders hart getroffen

von Günter Jek  26.10.2025

Meinung

Liebe Juden, bleibt bitte zu Hause!

Immer mehr jüdische Veranstaltungen werden abgesagt – angeblich zum Schutz von Jüdinnen und Juden. So wird aus einer Einladung zur Kultur ein stiller Abgesang auf Teilhabe

von Louis Lewitan  23.10.2025

Glosse

Der Klinkenputzer der Islamisten

Jürgen Todenhöfer trifft sich in Katar mit Vertretern der Hamas zum Gespräch und verbreitet danach ihre Propaganda.

von Ralf Balke  22.10.2025

Meinung

Wer stoppt die Hamas?

Die Entwaffnung und Zerschlagung der palästinensischen Terrororganisation ist und bleibt der Schlüssel zum Frieden in Nahost

von Philipp Peyman Engel  22.10.2025

Meinung

Die Abkehr des Kanzlers von der Staatsräson: Kein Grund zur Trauer

Der von Altkanzlerin Angela Merkel geprägte Begriff war schon immer vage. Es ist auch wesentlich leichter, wohlklingende Erklärungen abzugeben, als danach zu handeln. Friedrich Merz sollte endlich Taten folgen lassen

von Daniel Neumann  22.10.2025