Meinung

Westjordanland: Ein Abzug wäre kein Beitrag zu einer friedlichen Lösung

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen Foto: IMAGO/Pacific Press Agency

Auf Antrag verschiedener Staaten soll heute in der UN-Vollversammlung eine Resolution beschlossen werden, wonach »Israel seine unrechtmäßige Anwesenheit in besetzten palästinensischen Gebieten innerhalb von zwölf Monaten« beenden müsse. Gefordert wird die bedingungslose Beendigung von Israels militärischer und ziviler Präsenz in Ost-Jerusalem, dem Westjordanland und dem Gazastreifen.

Mit anderen Worten: Alle Juden haben nach dem Willen der Resolution die genannten Gebiete binnen zwölf Monaten zu verlassen. Demgegenüber leben im Staat Israel selbstverständlich weiterhin israelische Araber als gleichberechtige Staatsbürger.

Die Resolution beruht auf einem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH), das am 19. Juli 2024 veröffentlicht worden ist. Es beruht wiederum auf einer Resolution der UN-Vollversammlung aus dem Jahr 2022, in der die Vollversammlung den Gerichtshof offiziell um Erstattung des Gutachtens ersucht hatte.

Massive rechtliche und politische Vorverurteilungen gegen Israel

Schon die Fragen der UN-Vollversammlung an den Gerichtshof zeichneten sich durch massive rechtliche und politische Vorverurteilungen gegen Israel aus. Wohl unter anderem auch deshalb hatte Deutschland damals – obwohl im Grundsatz durchaus kritisch gegenüber der Politik der israelischen Regierung im Westjordanland – klar gegen die Resolution und damit die Erstattung des Gutachtens gestimmt.

Das ist ungewöhnlich, denn üblicherweise zeichnet sich das deutsche israelbezogene Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen eher durch »Enthaltungen« aus. Das damalige »Nein« zur Erstattung des Gutachtens war also ein deutliches Signal gegen das Gutachten.

Völkerrechtlich ging die Anfrage der Vollversammlung an den Gerichtshof schon von einer illegalen Besetzung des Westjordanlandes, Ost-Jerusalems und des Gazastreifens aus. Dadurch beantwortete das anfragende UN-Gremium einfach selbst die zwei zentralen Fragen, die zwischen Israel und der palästinensischen Seite völkerrechtlich umstritten sind, nämlich erstens die Rechtsansprüche Israels auf diese Gebiete, die sich aus dem Völkerbundmandat von 1922 und aus der Gründung des Staates Israel ergeben, und zweitens die fragwürdigen Rechtsgrundlagen eines Anspruchs auf einen palästinensischen Staat, vor allem dessen konkrete Grenzen.

Keine bindende rechtliche Wirkung

Zwar haben weder das Rechtsgutachten des Gerichtshofes noch die beantragte Resolution eine bindende rechtliche Wirkung. Sie können also nicht – wie Gerichtsurteile – vollstreckt werden. Das Gutachten und auch die Resolution haben aber nicht zu unterschätzende politische Auswirkungen.

Umso wichtiger ist es, sich vor Augen zu führen, dass aus der Resolution und dem Gutachten des Gerichtshofes keine unumstößliche und zwingende rechtliche Gewissheit resultiert. Bei dem Gutachten des Gerichtshofes handelt es sich lediglich um eine rechtliche Auffassung der Mehrheit des entscheidenden Richtergremiums, wobei sich die Vizepräsidentin des Gerichts, Julia Sebutinde aus Uganda, in einer mutigen, rechtlich überzeugenden und komplett abweichenden Rechtsauffassung von der Mehrheitsmeinung des Gerichtshofs abgesetzt hat.

Der deutsche Richter im Entscheidungsgremium, der Völkerrechtsprofessor Georg Nolte, hat – obwohl im Grundsatz mit der Mehrheit stimmend – in seiner ergänzenden Stellungnahme zu dem Gutachten des Gerichtshofes zu Recht klar herausgestellt, dass das Gutachten auf einer nur sehr begrenzten Tatsachengrundlage beruht und die Schlussfolgerungen des Gerichts keinesfalls das Ende, sondern allenfalls den Beginn eines Prozesses zur Lösung der Situation darstellen. Auch andere Richter haben ihre Auffassungen in weiteren ergänzenden Stellungnahmen dargelegt. Das verdeutlicht: Die Situation ist keinesfalls klar und eindeutig.

Dies ignoriert nun die geplante UN-Resolution, indem sie die rechtliche Auffassung des Gerichtshofes in einem hochkomplexen Umfeld »eins zu eins« in gelebte Realität vor Ort umsetzen will. Das ist aus zwei Gründen falsch: Einerseits ist die rechtliche Ansicht der Mehrheitsmeinung des Gerichtshofes fehlerhaft. Andererseits berücksichtigt das Gericht die Folgen einer potenziellen Umsetzung der Entscheidung »on the ground« sowie berechtigte Sicherheitsinteressen Israels nicht. Letzteres hat zurecht auch Richter Nolte in seiner ergänzenden Stellungnahme zu dem Gutachten kritisiert.

Israels Sicherheitsinteressen werden nicht berücksichtigt - trotz des 7. Oktober

Was sind die völkerrechtlichen Kritikpunkte an dem Gutachten? Der IGH nahm ohne gründliche rechtliche Untersuchung der beiden zentralen Fragen an, dass Israel keine Rechte an den umstrittenen Gebieten besitze und dass die von PLO und Palästinensischer Autonomiebehörde vertretenen Palästinenser ein Recht auf einen eigenen Staat in genau diesen Gebieten hätten. Die zu diesem Zweck vom Gericht aufgestellten rechtlichen Konstruktionen und tatsächlichen Annahmen sind völkerrechtlich nicht haltbar und finden auch in der historischen Realität keine Grundlage.

Das Gericht setzt sich nicht damit auseinander, dass das Völkerbundsmandat dem jüdischen Volk das Recht auf Errichtung eines eigenen Staates im gesamten Mandatsgebiet zusprach, die im UN-Teilungsplan angebotene Aufteilung des Gebietes von arabischer Seite abgelehnt wurde und dass die Gründung des Staates Israel 1948 damit von entscheidender rechtlicher Bedeutung war.

Soweit sich das Gericht für einen palästinensischen Anspruch auf einen Staat auf das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser beruft, vernachlässigt das Gericht die im Völkerrecht und in den Äußerungen der UNO eindeutig vorherrschende Lehre: Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt sich kein Anspruch auf einen eigenen Staat, sondern nur ein Recht auf eine beschränkte Selbstverwaltung.

Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt sich kein Anspruch auf einen eigenen Staat, sondern nur ein Recht auf eine beschränkte Selbstverwaltung.

Insgesamt fehlt es dem Gutachten bei der Beantwortung der entscheidenden, ganz grundlegenden völkerrechtlichen Fragen an Tiefe.

Das Rechtsgutachten ist insgesamt deutlich politisch geprägt. Das verwundert kaum, wenn man in Rechnung stellt, dass der Präsident des Gerichts, Nawaf Salam, acht Jahre lang als Botschafter Libanons in der UN erbittert den Staat Israel angegriffen hat. Dass er sich nicht wegen Befangenheit zurückgezogen hat, zeigt das hochpolitisierte Selbstverständnis des Gerichts, das nach der eigenen Verfassung eigentlich politisch neutral sein sollte.

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Hochproblematisch ist neben den rechtlichen Fragen vor allem auch die faktische Situation »on the ground«. Das Gericht zieht laut seinen eigenen Aussagen die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 nicht in Betracht. Würde der vom Gericht in Konsequenz seiner rechtlichen Einschätzung geforderte Rückzug Israels aus den umstrittenen Gebieten »so bald wie möglich« erfolgen – die Resolution fordert einen Rückzug binnen 12 Monaten –, so wäre kaum zu verhindern, dass erstens Verhältnisse wie im Gaza-Streifen alsbald auch in Ost-Jerusalem und im Westjordanland eintreten würden. Sicherheitspolitisch wäre das ein Supergau für die gesamte Region. Israels Recht auf Selbstverteidigung würde zudem damit vollkommen ausgehöhlt.

Abzug aus Westjordanland wäre eine »Belohnung« für Terror

Zweitens gäbe es für die palästinensische Seite kaum einen Grund mehr, durch Verhandlungen eine friedliche Beilegung des Konflikts mit Israel zu suchen. Jeder, der sich auch nur oberflächlich mit der Region auskennt, weiß: Eine solch einseitige Lösung wird der Komplexität der Situation nicht ansatzweise gerecht.

Die bedingungslose »Beendigung der Anwesenheit« militärischer und auch jeglicher ziviler Präsenz Israels im Westjordanland ohne jegliche Verhandlungen und die Sicherheit Israels schützende Vorkehrungen wäre letztlich eine einseitige »Belohnung« für steten Terror. Es entstünde ein vollkommen instabiler und potenziell an der Zerstörung Israels interessierter palästinensischer Staat, nicht zuletzt auch als Einfallstor für aggressive iranische Zerstörungsbestrebungen. Das hätte die weitere Ausbreitung von Terror und Krieg in der gesamten Region zur Folge.  

Die katastrophalen Auswirkungen einer möglichen Umsetzung der wirklichkeitsfremden Resolution zeigen, dass die Vereinten Nationen und ihre Gremien derzeit leider nicht in Lage sind, zu einer friedlichen Lösung des Konflikts beizutragen, sondern – im Gegenteil – einseitig zulasten Israels agieren und damit nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind.

Prof. Dr. Wolfgang Bock ist Senior Fellow der Denkfabrik »thinc« (The Hague Inititiative for International Cooperation). Er lehrt zudem seit 2012 als außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät der Justus Liebig-Universität Gießen. Von 2012 bis 2017 war er Studienreferent für Staats- und Völkerrecht an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.

Dr. Benjamin Klein ist Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied im Nahost Friedensform e.V. (NAFFO).

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