Mit einer Druckauflage von aktuell knapp 100.000 Exemplaren täglich ist der Zürcher »Tages-Anzeiger« eine der wichtigsten Zeitungen der Schweiz. Zu Wochenbeginn brachte das linksliberal orientierte Blatt einen langen Artikel über eine Veranstaltung mit der Sonderberichterstatterin des UN-Menschenrechtsrates für die palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, in Bern. Die Diskussion mit der italienischen Juristin war zunächst an der dortigen Universität geplant gewesen, wurde von dieser aber nicht genehmigt und musste kurzfristig an einen anderen Veranstaltungsort verlegt werden.
Zuvor hatte Amnesty International (AI) bei der Hochschulleitung um die Anmietung eines Raums nachgesucht. AI-Generalsekretärin Agnès Callamard höchstpersönlich wolle mit Albanese diskutieren. Albanese arbeite als Expertin des UN-Menschenrechtsrates »wissenschaftsbasiert«, behauptete die Organisation gegenüber der Uni. Die hatte aber offenbar genau daran ernsthafte Zweifel. Sie zog das Angebot, einen Saal zur Verfügung zu stellen, drei Tage vor dem geplanten Auftritt der Sonderberichterstatterin am 30. Juni zurück.
Nun veröffentlichte der »Tages-Anzeiger« eine Recherche, die belegen soll, dass der Auslöser dafür eine Intervention des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) war. SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner habe in mehreren Mails an Uni-Rektorin Virginia Richter sowie in einem Telefonat mit ihr Francesca Albanese Antisemitismus unterstellt. Er habe Richter aber seine Quellen dafür nicht offengelegt. Bei dieser Quelle handele es sich um einen Bericht der Genfer NGO UN Watch, die laut »Tages-Anzeiger« von dem »als zentristisch geltenden israelischen Newsportal ›Times of Jerusalem‹ (sic) als ›proisraelische Wachhund-Gruppe‹ bezeichnet« werde. In Wahrheit heißt das Portal »Times of Israel«.
Dass der 56-seitige UN-Watch-Bericht zu Albanese falsche oder irreführende Aussagen enthält, behauptet der »Tages-Anzeiger« auch nicht. Dennoch wird zwischen den Zeilen suggeriert, dass die Vorwürfe nicht viel wert sein können, weil sie von interessierter Seite kämen.
Dabei hätte den Journalisten bereits eine kurze Google-Recherche gereicht, um herauszufinden, dass die Antisemitismusvorwürfe gegen Albanese keineswegs »politisch motiviert« sind, wie AI behauptet, und auch keineswegs nur von einer proisraelischen NGO erhoben werden. Auch andere jüdische und nichtjüdische Organisationen und sogar westliche Regierungen haben sie wiederholt dokumentiert und angeprangert. Vergangenen Mittwoch erst trat Albanese an der Freien Universität Berlin auf. Dort zog sie munter Parallelen zwischen dem Holocaust und der Situation in Gaza; die »Neue Zürcher Zeitung« berichtete ausführlich darüber.
Albanese ist bekannt für ihre Schmähkritik an Israel
Doch der Artikel im »Tages-Anzeiger« befasst sich nicht mit den schweren Vorwürfen gegen die UN-Berichterstatterin. Er wischt Kritik an Albanese mit dem dürftigen Argument vom Tisch, sie stamme von interessierten Kreisen, von einer angeblichen »Israel-Lobby«. Dabei hat doch der SIG-Generalsekretär recht, wenn er sagt: »Entscheidend ist nicht, wer die Aussagen Albaneses dokumentiert hat, sondern was sie gesagt hat.«
Hinzu kommt: Albanese und Callamard arbeiten keineswegs wissenschaftlich. Sie sind auch Lobby, ein »Pressure Group«. Es ermangelt ihnen nicht an öffentlicher Aufmerksamkeit für ihre teils kruden Ansichten. Und auch nicht an öffentlich zugänglichen Orten, an denen sie Schmähkritik an Israel absondern können. Nur braucht eine Uni für Propagandaveranstaltungen wie diese keine Räume zur Verfügung stellen; mit ihrem Auftrag und mit Wissenschaftsfreiheit hat das nichts zu tun.
Wer den Artikel im »Tages-Anzeiger« liest, bekommt dagegen den Eindruck, die Uni-Leitung in Bern sei vor dem Druck einer bestimmten Lobby eingeknickt. Zwar wird durchaus erwähnt, dass es schon lange vor Kreutners Intervention Bedenken seitens der Hochschulleitung gab. Aber erst als der SIG-Generalsekretär angerufen habe, habe die Uni-Leitung gehandelt, suggerieren die Verfasser des Artikels.
Die deutliche, wenngleich unausgesprochene Unterstellung: Schweizer Unis seien den Machenschaften einer »Israel-Lobby« ausgeliefert. Nun ist dieser Vorwurf weiß Gott nicht neu. Er gehört seit Jahrhunderten zum Einmaleins antisemitischer Argumente. Warum der Einfluss der Schweizer Juden, von denen es ungefähr so viele gibt wie Studierende an der Universität Bern, ausschlaggebend für eine Entscheidung der dortigen Rektorin sein soll, ist zweifelhaft.
Alles längst belegt
Im Juli 2014 schrieb eine Italienerin einen Brief an den katholischen Bischof des Heimatbistums ihrer Familie. Darin behauptete sie, eine »jüdische Lobby« habe die Vereinigten Staaten »unterworfen« und verhindere, dass Israel seine Politik gegenüber den Palästinensern ändern müsse. Außerdem fühle Europa sich »schuldig am Holocaust« und setze sich deshalb zu wenig für die Palästinenser ein.
Die Briefeschreiberin von damals war eine gewisse Francesca Albanese. Diese und andere eindeutige antisemitische Aussagen von ihr sind seit einigen Jahren schon bekannt; neben UN Watch haben auch andere Organisationen sie sauber belegt. Man kann sie mit ein paar Mausklicks recherchieren. Das wäre auch dem »Tages-Anzeiger« zuzumuten gewesen.
So aber entsteht nun der Eindruck, jüdische Kreise hätten unbotmäßig Druck auf öffentliche Hochschulen in der Schweiz ausgeübt. Genau mit solchen Artikeln werden antisemitische Ressentiments weiter geschürt.
Was der »Tages-Anzeiger« in seiner subtilen Empörtheit vergisst: Jonathan Kreutner und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund haben richtig gehandelt; sie haben ihren Job gemacht. Und angesichts eines grassierenden Antisemitismus darf man froh sein, wenn Uni-Leitungen wie die in Bern sich die Argumente der von Judenhass Betroffenen – in diesem Fall sind das die Schweizer Juden – anhören und entsprechend handeln.