Meinung

Das erdrückende Schweigen der »Anständigen« beim Thema Antisemitismus

Ralf Balke Foto: Marco Limberg

»Es ist 5 vor 1933« und »Nie wieder ist jetzt« – diese Slogans waren auf Transparenten der Demonstranten zu lesen, die am Wochenende bundesweit auf die Straßen gingen. Allein in Berlin sollen es rund 160.000 gewesen sein, die von der Reichstagswiese zur CDU-Parteizentrale zogen.

Sie wollten damit ihre Sorge um die Brandmauer zum Ausdruck bringen, die zu fallen droht, seitdem CDU-Chef Friedrich Merz ihrer Meinung zufolge keine Probleme damit hat, sich Mehrheiten jenseits der demokratischen Parteien zu beschaffen. Für die Demonstranten stellt eben das ein Tabubruch dar.

Lesen Sie auch

Dabei musste man gar nicht bis zum Reichstag laufen, um live und in Farbe vorgeführt zu bekommen, wie sogar ein »3 vor Pogromnacht« aussehen kann. Denn schon am Vortag zog unter dem Motto »Hands off Westbank« eine Demonstration mit etwa 280 Teilnehmern in Richtung Potsdamer Platz. Laut Informationen der Tageszeitung »Bild« sollen dabei Parolen wie: »Wer eine Waffe hat, soll damit Juden erschießen oder sie der Hamas übergeben!« gebrüllt worden sein.

Auf X erklärte die Polizei dazu: »Aufgrund der Sprachbarrieren und der mit dem Aufzugsgeschehen einhergehenden Lautstärke konnte nicht an allen Stellen eine durchgängige Übersetzung für eine sofortige Bewertung durchgeführt werden.« Aber all das, was man auf der Demonstration an Video-, Foto- und Tonmaterial habe, würde jetzt vom Staatsschutz ausgewertet.

Lesen Sie auch

»Bild«-Reporter Iman Sefati hatte vor Ort ein bekanntes Gesicht gesehen und fotografiert, und zwar das von Helmi Barbakh, einem jungen Palästinenser, der im vergangenen September einen Mikrofonständer nach dem Berliner Kultursenator Joe Chialo geworfen hatte, wobei eine Frau verletzt wurde. Gegen ihn wird deswegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch ermittelt.

Hasserfüllte Demonstrationen gegen Israel, bei denen mehr oder weniger zur Vernichtung des jüdischen Staates aufgerufen wird, gibt es seit dem 7. Oktober 2023 fast täglich. Und auch am späten Samstagnachmittag waren es die üblichen Verdächtigen, die in Berlin-Mitte wiederholt unterwegs waren: »erlebnisorientierte« Erasmus-Studenten, versprengte Antiimperialisten sowie Migranten aus Neukölln und die »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost«, die bei solchen Krawall-Events natürlich nie fehlen darf.

Doch wohl selten wurde so offen zum Mord an Juden aufgerufen, also ein Drohpotenzial von neuer Qualität erreicht. Das geschieht ausgerechnet jetzt, wo es im Gazastreifen zu einer Waffenruhe gekommen ist. Und je lauter solche Aufrufe zum Mord zu hören sind, desto leiser fallen die Reaktionen aus.

Genauer gesagt: Es gab keine. Auch nicht beim »Aufstand der Anständigen« tags darauf. Denn Antisemitismus scheint im Kampf gegen Rechts kein Thema zu sein. Denn »Menschenfeindlichkeit« kann es doch nur exklusiv von Rechts geben.

Irritierend ist auch die Tatsache, dass die FDP-Politikerin Karoline Preisler, die am Sonntag mit dabei war und ein Foto des von der Hamas immer noch in Geiselhaft befindlichen Babys Kfir Bibas sowie seiner Mutter hochhielt, schnell den Eindruck gewann, beim »Aufstand der Anständigen« alles andere als willkommen zu sein.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Besonders ohrenbetäubend war das Schweigen der »Anständigen« in Essen. Dort demonstrierten am Samstag rund 14.000 Menschen gegen Rechts, hielten unter anderem Schilder mit der Aufschrift »Nie wieder ist jetzt!« hoch. Doch dann kreuzte eine israelfeindliche Kundgebung den Demonstrationszug.

Mit Palästina-Flaggen und Kuffiyeh skandierten die Teilnehmer antisemitische Parolen wie »Muslimisch, jüdisch oder christlich - wir sind antizionistisch« oder »Ärzte werden massakriert, warum wird das akzeptiert?«. Doch statt sich den Antisemiten in den Weg zu stellen, schwiegen die »Anständigen« oder - schlimmer noch - applaudierten vereinzelt.

Der Autor ist Journalist und Historiker und lebt in Berlin.

Kommentar

Antisemitismus: Was ist da los in Berlin?

Die judenfeindlichen Straftaten sind rückläufig. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Ein Bundesland sticht negativ hervor

von Michael Thaidigsmann  09.02.2025

Bildung

Wissenschaftsfreiheit und Antisemitismus

Die Bundestagsresolution gegen Judenhass an Hochschulen und die Verantwortung der Universitäten. Ein Gastkommentar von Frederek Musall

von Frederek Musall  07.02.2025

Meinung

Vielleicht müssen erst alte Gewissheiten zerbrechen?

Die Welt tobt über Trumps Vorschlag für die Zukunft des Gazastreifens. Doch die Reaktion zeigt, wie viele Menschen Illusionen anhängen, wenn es um den Nahostkonflikt geht

von Daniel Neumann  07.02.2025

Meinung

München als Mahnung

Die Stadt brauchte 55 Jahre, um sich dazu durchzuringen, den Opfern des Brandanschlags auf das jüdische Gemeindehaus in der Reichenbachstraße ein Denkmal zu setzen. Die Täter sind bis heute nicht gefunden

von Georg M. Hafner  06.02.2025

Migrationspolitik

Reißt euch zusammen!

Die Parteien der demokratischen Mitte müssen endlich Kompromisse eingehen – alles andere stärkt die Extremisten. Ein Appell unserer Redakteurin Ayala Goldmann

von Ayala Goldmann  05.02.2025

Meinung

Die Union kämpft für den Erhalt der Demokratie

Warum die Kritik an CDU-Chef Friedrich Merz falsch und geschichtsvergessen ist

von Michael Wolffsohn  05.02.2025

Meinung

Die Union legitimiert die AfD und diffamiert alle Migranten

Friedrich Merz schafft ein Umfeld, in dem Ideen gedeihen, die sich kein Demokrat wünschen kann

von Liora Jaffe  05.02.2025

Appell

Reißt euch zusammen!

Die Parteien der demokratischen Mitte müssen in der Migrationspolitik endlich Kompromisse eingehen – alles andere stärkt die Extremisten

von Ayala Goldmann  05.02.2025

Kommentar

Historischer Tabubruch? Einreißen der Brandmauer?

Friedrich Merz und die Verschärfung der Migrationspolitik: Eine Einordnung von JA-Chefredakteur Philipp Peyman Engel

von Philipp Peyman Engel  05.02.2025 Aktualisiert