Ursprünglich wollte Rachel Cockerell über ihre Vorfahren Fanny und Sonia schreiben. Sie hatten in den 40er-Jahren in einem riesigen Haus in London gelebt, das noch heute in Familienbesitz ist. Gekauft hatte es ein gewisser David Jochelmann. Über ihn war späteren Generationen kaum etwas bekannt. Er sei Geschäftsmann gewesen und habe mit Aktien zu tun gehabt, so viel kam der Autorin zu Ohren.
Bei ihren Recherchen stieß die 1994 geborene Historikerin auf eine Überraschung: Ihr Urgroßvater war kein Aktienhändler, sondern stand in Verbindung mit Galveston. An diesem Ort in Texas, so fand sie heraus, hatten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg rund 10.000 russische Juden niedergelassen. Maßgeblich mitorganisiert hatte die Übersiedelung David Jochelmann. Nach dieser Entdeckung schmiss Rachel Cockerell ihr Buchkonzept um – entstanden ist Melting Point.
Briefe, Tagebücher, Memoiren, Zeitungsartikel und Interviews
Cockerell verwebt darin Briefe, Tagebücher, Memoiren, Zeitungsartikel und Interviews zu einem eigenwilligen Text. Das Resultat ist ihre Familiengeschichte in Kiew, London, Galveston, New York und Jerusalem. Detailreich und fragmentarisch gibt das Buch Einblicke in die Migrationsbiografien und Lebensträume ihrer Vorfahren, zu denen auch der Dramatiker Emjo Basshe (1898–1939) gehört.
Die Galveston-Bewegung bettet Cockerell ein in die größere Geschichte des politischen Zionismus. Erster Protagonist ihres Buches ist daher kein Geringerer als der Schriftsteller und Publizist Theodor Herzl, der sich unermüdlich für eine jüdische Heimstätte eingesetzt hat. Ob diese in Palästina oder ganz woanders entstehen sollte, war in den Kindertagen des Zionismus noch ungeklärt.
Nach erbittertem Streit darüber gründete sich unter dem Eindruck des Pogroms von Kischinew (1903) gut zwei Jahre später die »Jüdisch-territorialistische Organisation«, die bis zu ihrer Auflösung 1925 nach alternativen Orten zu Palästina suchte.
Ihr Spiritus Rector, der britische Schriftsteller und Journalist Israel Zangwill, arbeitete für das Galveston-Projekt eng mit David Jochelmann zusammen und überredete ihn 1914 zum Umzug nach London. Zangwill ist daher ein weiterer berühmter Protagonist in dem Buch, das empathisch und neugierig-forschend eine wenig bekannte Episode der modernen jüdischen Geschichte an die Oberfläche bringt.
Rachel Cockerell: »Melting Point. Suche nach dem Gelobten Land. Eine Familiengeschichte«. Aus dem Englischen von Nina Frey und Cornelius Reiber. Die Andere Bibliothek. Aufbau, Berlin 2025, 456 S., 48 €