Klassik

Zauberer aus der Wüste

»Ich will die Geschichte Israels anders erzählen«: Omer Meir Wellber (39) Foto: picture alliance / Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa

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Zauberer aus der Wüste

Omer Meir Wellber wird künftiger Musikchef der Volksoper in Wien. Seine Kindheit in Beer Sheva prägt den Dirigenten bis heute

von Axel Brüggemann  21.01.2021 10:38 Uhr

Es war ein typischer ›Nein‹-Termin», sagt Omer Meir Wellber heute. «Ich bin hingegangen, um abzusagen.» Der Israeli Wellber ist Chef des BBC Philharmonic Orchestra, leitet die musikalischen Geschicke am Opernhaus in Palermo und arbeitet als Erster Gastdirigent an der Semperoper in Dresden.

Warum sollte er «Ja» sagen, als die designierte Intendantin der Wiener Volksoper, Lotte de Beer, ihn fragte, ob er künftig ihr Musikdirektor sein wolle? Omer Meir Wellber hat genug zu tun.

Wenn er diese Episode heute erzählt, drei Monate nach dem Termin mit Lotte de Beer, lacht er. «Sag niemals nie!», zitiert der Dirigent James Bond und erklärt: «Es war die Atmosphäre des Gesprächs, die mich umgestimmt hat, es war Lottes Begeisterung, und es war die gemeinsame Feststellung, dass Musik für uns beide eine ähnliche Bedeutung hat.» Und am Ende sagte er dann «Ja» statt «Nein». Nun schafft Wien eine vollkommen neue Stelle für den 39-Jährigen: Musikdirektor der Volksoper. Das gab es vorher nicht.

liberal Wie unkonventionell Omer Meir Wellbers Musikverständnis ist, kann man derzeit wohl am besten in der sizilianischen Stadt Palermo beobachten. Während ein Großteil Italiens noch immer latent nationalistisch ist, bildet der israelische Dirigent gemeinsam mit dem Bürgermeister und seinem Intendanten «eine Art Resistance», wie er selbst es nennt. «Palermo ist anders als Italien», sagt Meir Wellber, «liberaler, offener – neugieriger.» Deshalb fühlt er sich hier wohl.

Für den jungen Omer war die Musik kein Hobby, sondern eine Notwendigkeit.

Als die Flüchtlingskrise eskalierte, schickte der Dirigent seine Assistenten in die Straßen der Stadt und ließ sie Flüchtlinge interviewen. Ob sie Musik lieben? Ob sie ein Instrument spielen? Ob sie es nicht gemeinsam mit ihm machen wollen? Es wurde ein großes musikalisches Fest. Und dieses Jahr, zu Silvester, hat Omer Meir Wellber eine transsexuelle Klassik-Revue auf die Beine gestellt, die auch das Mainstream-Publikum in Palermo begeisterte.

«Für mich ist Musik keine Kunst der Repräsentation oder der Distinktion», erklärt er, «sondern eine existenzielle Möglichkeit der Integration und der Überraschung.» Er sei fest davon überzeugt, dass ein Großteil des Publikums durchaus bereit für Neues ist.

kindheit Seine Kindheit und Jugend hat Omer Meir Wellber in Israel verbracht. 1981 wurde er als Sohn einer Lehrerin in Beer Sheva geboren. «Die Stadt war in meiner Kindheit noch kleiner und ärmer als heute», sagt er. «Wenn man durch die Straßen ging, hörte man zehn oder 20 verschiedene Sprachen, und die Musik spielte eine ganz besondere, sehr existenzielle Rolle.» Auch, weil sie gerade für die jüdischen Immigranten ein existenzielles Gefühl der alten Heimat war.

Für den jungen Omer war das Musikmachen keine Freizeitbeschäftigung, sondern eine Notwendigkeit. Er lernte zunächst Akkordeon und Geige, begann zu komponieren und fuhr als Elfjähriger jeden Sonntag mit dem Bus allein in die Wüste, zum Kibbuz, wo Michael Wolpe ihn unterrichtete.

Später wechselte er vom Komponieren zum Dirigieren, gastierte beim Israel Chamber Orchestra, dem Jerusalem Symphony Orchestra und in der Israeli Opera. 2008 ging Omer Meir Wellber dann bei Daniel Barenboim an der Staatsoper in Berlin und in Mailand in die Lehre. 2009 wurde Wellber schließlich zum Musikdirektor des Raanana Symphonette Orchestra ernannt, das sich hauptsächlich der Integration von jüdischen Emigranten in Israel widmet.

tricks Sein Studium finanzierte Omer Meir Wellber nicht nur mit dem Akkordeon, sondern auch als Zauberer. «Ich liebe die kleinen Tricks vor den Augen der Zuschauer», sagt er, «die Kartentricks oder Tricks mit Münzen. Tricks, bei denen man die Aufmerksamkeit des Zuschauers manipuliert.» Natürlich habe das sehr viel mit dem Beruf eines Dirigenten zu tun, sagt Wellber, der Klang-Magier.

Mozart wird von ihm nicht als Schokokugel mit Blattgold behandelt, sondern als Revolutionär.

Wie er Bekanntes neu liest, zeigte er der Welt mit seinem DaPonte-Zyklus an der Semperoper in Dresden, als er die Mozart-Opern Così fan tutte, Le nozze di Figaro und Don Giovanni gegen den Mainstream-Strich bürstete. Mozart wird von Wellber nicht als Schokokugel mit Blattgold behandelt, sondern als Enfant terrible, als Revolutionär und als allzu menschlicher Mensch. In den drei Schlüsselopern erkennt der Dirigent die menschlichen Stereotype von Angst, Risiko und Liebe, denen Wellber auch in einem Buch ausführlich nachhorcht.

SCHREIBEN Überhaupt hat er das Schreiben als Ausdrucksmittel für sich entdeckt. Es ist eine Möglichkeit, sich mit seiner Heimat, mit Israel, auseinanderzusetzen. Sein neues Buch heißt Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner und entzaubert mit Augenzwinkern das israelische Selbstverständnis.

Wellber erzählt die Geschichte des 108-jährigen ältesten Mannes Israels, der 1941 angeblich Torarollen vor den Nazis in Ungarn gerettet hat und nach Israel floh. Seine Biografie stellt sich als halb wahr und halb erlogen heraus. Altersmüde, wird der Protagonist von seiner Tochter Sharon gezwungen, sich noch einmal aufzurappeln. «Ich will die Geschichte Israels etwas anders erzählen», sagt er. Das Buch ist bereits auf Deutsch erschienen, kommt nun auf Englisch und Italienisch heraus.

Egal, ob in seinen Büchern oder in seiner Musik, egal, ob in Israel, London, Palermo – oder in Zukunft in Wien: Wenn Omer Meir Wellber eines verabscheut, ist es die Routine, die Sattheit der Menschen, der Stillstand der Welt und Leidenschaftslosigkeit in der Musik. Omer Meir Wellber nennt sich Dirigent, in Wahrheit aber ist er, das wird demnächst auch Wien entdecken, ein Musik-Verführer.

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