Geschichte

Wilde jüdische Reiter

Militante Juden: Chasarenkrieger in einem russischen Geschichtsbuch Foto: ja

Für den amerikanischen Schriftsteller Michael Chabon wäre »Juden mit Schwertern« der »einzig wahre« Titel seines neuen Romans Gentlemen of the Road, der jetzt auf Deutsch unter dem unsinnigen Namen Schurken der Landstraße bei Kiepenheuer & Witsch vorliegt. Schade, dass der Autor sich in seinem Verlag nicht durchsetzen konnte. »Juden mit Schwertern?« dürften nicht wenige Kinder Israels im mittelalterlichen Europa ungläubig gefragt haben, als sie um das Jahr 900 Gerüchte von einem wilden und wehrhaften Turkvolk hörten, das im Kaukasus zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer in einem mächtigen jüdischen Reich lebte – die Chasaren. Von ihnen handelt Chabons Buch: Es erzählt von der Reise zweier jüdischer Räuber in das kaukasische Land. Amram und sein Gefährte Zelikman begleiten einen Chasarenprinzen in die Heimat, wo ein Putsch gegen dessen Vater, den rechtmäßigen König, stattgefunden hat. Die ebenso abenteuerlustigen wie gewaltbereiten Helden wollen dem Jungen helfen, seine Ansprüche auf den Thron geltend zu machen.

übertritt Viele Leser von Chabons rasant erzählter Abenteuergeschichte werden den historischen Hintergrund möglicherweise für ebenso fiktiv halten wie den Plot des Buchs. Doch das Königreich der Chasaren hat zwischen 650 und 1016 tatsächlich existiert. In seiner Blütezeit umfasste es, so der renommierte Forscher Kevin Alan Brook, den nördlichen Kaukasus, das südliche Russland, die östliche Ukraine, die Krim, das westliche Kasachstan und das nordwestliche Usbekistan. Jüdisch wurde das bis dahin animistische Turkvolk im Jahr 740 oder 861, je nach Quelle. Der sefardische Philosoph und Dichter Jehudah Halevy beschreibt die Konversion in seinem Sefer Ha-Kuzari so: Die Chasaren lebten umgeben von christlichen Nachbarn zur einen, Muslimen zur anderen Seite, die versuchten, das Reitervolk für ihren jeweiligen Glauben zu gewinnen. Der Khan bat daraufhin Vertreter der Christen und der Muslime, ihre Religion zu erläutern. Ihm fiel auf, dass beide ihren Glauben auf einen dritten zurückführten, das Judentum. Also rief der Herrscher einen Rabbi zu sich. Dessen Darlegungen beeindruckten ihn so sehr, dass er mit seinem Volk zum Judentum übertrat.

Halevys Darstellung basiert auf mündlicher Überlieferung. Sie ist weniger Historiografie als moralische Fabel – aber im Kern wahr. Der Übertritt der Chasaren zum Judentum ist verbürgt und lässt sich anhand von Quellen und archäologischen Fundstücken belegen. Der Chasarenstaat unter Königen namens Zacharias, Obadiah, Aaron und Joseph war, so die Forschung, erstaunlich fortschrittlich und tolerant. Juden, Muslime, Christen und Anhänger anderer Religionen lebten dort friedlich zusammen und kämpften auch gemeinsam gegen die arabischen Angreifer im Süden, Byzanz im Westen und die Waräger der Kiewer Rus im Norden. Letztere eroberten und zerstörten den jüdischen Staat kurz vor der Jahrtausendwende.

theorie Die überlebenden Chasaren flohen Richtung Westen. Bereits Ende des 9. Jahrhunderts hatten sich chasarische Reiter den Magyaren angeschlossen und waren mit ihnen in das Gebiet des heutigen Ungarn eingefallen. Die assimilierten ungarischen Juden des 19. Jahrhunderts waren stolz darauf, dass ihr Land auch jüdische Krieger zu seinen Geburtshelfern zählte. Einer von denen, die schon als Schüler abenteuerliche Geschichten über die Kämpfer aus dem Chasarenreich verschlangen, war der junge Arthur Koestler. Jahrzehnte später, 1976, verhalf er mit seinem elegant geschriebenen Essay Der dreizehnte Stamm der sogenannten »Chasarentheorie« zu internationaler Bekannt- heit. Diese Theorie, von dem Tel Aviver Professor Avraham N. Poliak bereits in den 40er-Jahren aufgestellt, besagt, dass die meisten osteuropäischen Juden nicht Nachkommen der biblischen Hebräer seien, sondern Abkömmlinge der Chasaren.

Zwar wusste Koestler schon, als er das schmale Buch verfasste, dass seriöse Studien die These vom chasarischen Ursprung des Ostjudentums nicht bestätigten. Doch ihm ging es nicht um historische Wahrheit. Er wollte den Antisemitismus widerlegen, indem er per Taschenspielertrick die Juden in ein »arisches« Turkvolk verwandelte. Das heute leider nur noch antiquarisch erhältliche Der dreizehnte Stamm ist faszinierend zu lesen. Es ähnelt in seiner beschwingten »Beweisführung« ein wenig den populären Büchern Erich von Dänikens. Was dort die Außerirdischen, sind bei Koestler die Chasaren, deren Erbe bei den Aschkenasim er unter anderem an Namen wie Kagan (gleich Khan wie in Dschingis) festmacht oder am Streiml, dem Pelzhut der Chassidim, der, so der Autor, wohl kaum nahöstlichen Ursprungs sein könne und frappierend mongolischen Kopfbedeckungen ähnele. Sogar das Rezept für Gefilte Fisch verortete Koestler in der Chasaren-Küche.

antizionistisch Koestler musste allerdings rasch feststellen, dass sein Chasarentrick nicht nur nicht funktionierte, sondern sogar nach hinten losging. Kein Antisemit schwor seinem Judenhass ab. Dafür nahmen (und nehmen bis heute) Antizionisten aller politischen Richtungen Koestlers Buch für sich in Anspruch, glauben sie doch, dass die »Chasarentheorie« die historischen Ansprüche des jüdischen Volks auf einen Staat in Eretz Israel zunichtemache. Wenn die Juden nicht vom Jordan, sondern von der Wolga stammten, hätten sie in Palästina nichts verloren. Da hilft es auch nicht, dass jüngst veröffentlichte DNA-Studien wissenschaftlich einwandfrei belegen, dass die Vorfahren von Aschkenasim und Sefardim tatsächlich aus dem Nahen Osten kamen, nicht aus dem Kaukasus. Jud bleibt Jud beziehungsweise Chasar.

Aber selbst wenn die Chasarentheorie stimmte, oder Shlomo Sand (der die chasarische Geschichte nicht einmal in ihren Grundzügen kennt) recht hätte mit seinem Bestseller Die Erfindung des jüdischen Volkes, das angeblich wenig länger als zweihundert Jahre existiert: Den Anspruch der Juden auf ihren Staat hat Koestler, den Sand als Zeugen gegen den jüdischen Nationalismus aufruft, selbst am besten formuliert. Der Zeit seines Lebens überzeugte Zionist schrieb 1946 an Chaim Weitzmann: »Und wenn jemand ankommt und an unserem Recht zweifelt, als eine eigene Nation betrachtet zu werden – der Beweis ist in den Gaskammern Auschwitz. Wollen die uns etwa auf ewig dazu verdammen, dass wir als Volk ermordet werden, doch nicht das Recht haben, als Volk zu leben?«

Nein, zum politischen Argument taugen die wilden Krieger aus dem Kaukasus wenig. Aber als Thema für Spannungsliteratur haben sie sich bewährt. Vor Michael Chabon hatten schon Oskar Baum (Das Volk des harten Schlafs, 1937), Milorad Pavic (Das chasarische Wörterbuch, 1984) und Marek Halter (Le Vent des Khazars, 2003) Chasarenromane geschrieben. Selbst Jerry Cotton kämpfte schon in einem Heft gegen finstere chasarische Klans. Es ist ein Stoff, aus dem man Mythen macht.

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