Studie

Wie die Juden Galiziens und der Bukowina zu ihren Namen kamen

Johannes Czakai ist Historiker und Visiting Fellow an der Hebräischen Universität Jerusalem. Foto: privat

Studie

Wie die Juden Galiziens und der Bukowina zu ihren Namen kamen

Johannes Czakais neues Buch beschäftigt sich mit einem Thema, zu dem es noch nicht allzu viel Literatur gibt

von Tilman Salomon  21.10.2021 08:29 Uhr

Im Jahr 1927 gab Joseph Roth grimmig zu Protokoll: »Für die Juden hat der Name deshalb keinen Wert, weil er gar nicht ihr Name ist … Sie tragen aufgezwungene Pseudonyme.« Heute, nach fast 100 Jahren, scheint kaum etwas unzutreffender als die Einschätzung des großen k.u.k. Chronisten. Goldstein, Königsberger, Shapiro: Für Juden (wie für ihre Feinde) ist der Name zu dem vermutlich wichtigsten Schibboleth von Jüdischkeit (»Ist der auch …?«) geworden, mit ihm verbinden sich Stolz, Identifikation und nicht selten ein detektivischer familiengeschichtlicher Forschungseifer.

Zum Glanz der aschkenasischen Namen deutscher Herkunft trägt gewiss auch ihr sprechender, assoziationsöffnender Charakter bei, der tiefe Einblicke in die verschütteten Lebenswelten der Vorfahren im zerstörten Mitteleuropa verheißt. Es ist kaum verwunderlich, dass sich um die Benennung der Juden in der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert zahlreiche Legenden ranken, die es nicht selten auch in die üppige (populär-)wissenschaftliche Literatur und ins allgemeine kulturelle Gedächtnis geschafft haben.

UNTERSUCHUNG So gibt es wohl niemanden, der nicht die auch bei Joseph Roth anklingende Episode von den durch bösartige Beamte aufgenötigten »Ekelnamen« wie Krummnas oder Geizhals zum Besten geben könnte. Wie wenig wir bislang über die historische Namensgebungspraxis tatsächlich wissen, zeigt nun Johannes Czakai in seiner Untersuchung Nochems neue Namen, die sich der Einführung der deutschen Vor- und Familiennamen in Galizien und der Bukowina zwischen 1772 und 1820 widmet und nicht weniger als einen Meilenstein der Forschung darstellt.

Die Namen wurden im Falle der Juden häufig durch die Kreiskommissäre bestimmt.

Czakais Schilderung ist deshalb so bestechend, weil er sich nicht, wie diverse Autoren vor ihm, in ausufernden Namenssammlungen verliert, um sich dann in wilden Bedeutungserklärungen zu versuchen. Stattdessen rekonstruiert er so präzise wie anschaulich den Kosmos der neben- und miteinander lebenden jüdischen, polnischen und ruthenischen Gemeinschaften auf dem Gebiet, das die Habsburger 1772 von Polen-Litauen annektierten beziehungsweise 1774 erwarben. Während die Juden die Abführung der Sonderabgaben für die Obrigkeit bis zu diesem Zeitpunkt selbst organisierten und so relative Autonomie bewahrten, erhielt mit den neuen Herrschern und ihrem aufgeklärten Absolutismus auch ein neuer Anspruch der staatlichen Einheit und der Bevölkerungskontrolle Einzug, weshalb zum ersten Mal die Frage aufkam, wer überhaupt in den neuen Ostprovinzen lebte.

Das »Wer« ist entscheidend, denn zu dem Zeitpunkt waren weder unter Juden noch unter Christen lebenslang beibehaltene Vor- und Familiennamen etabliert. Doch wie sollte man die christlichen Untertanen zum Militärdienst verpflichten oder Toleranzsteuern ermitteln beziehungsweise die Abschiebung geächteter »Betteljuden« vornehmen, wenn die Namen fluide blieben und mal der Vater, mal ein Spitzname, mal der Beruf und mal der »Oyfruf-Nomen« zur Toralesung in der Synagoge zur Selbstkennzeichnung gewählt wurde?

kenntlichmachung Mit dem Dreischritt Erfassen, Klassifizieren und Überwachen machten sich Legionen dienstbeflissener königlicher Beamter mit Unterstützung von Rabbinern und Pfarrern daran, jedem Individuum eine möglichst unverwechselbare Kenntlichmachung aufzuprägen. Die Namen wurden von dem zukünftigen Träger zum Teil selbst gewählt, im Falle der Juden jedoch häufig durch die Kreiskommissäre bestimmt.

Zurückgegriffen wurde dabei auf (oftmals ausgedachte) Ortsnamen, Vatersnamen, Berufsbezeichnungen, sogar Theaterfiguren und zunehmend Zweikomponentennamen mit Suffixen, denen heute ein »jüdischer Klang« attestiert wird: -man, -stein, -baum, -berg. In seinen ausgiebigen Archivrecherchen zeigt Czakai jedoch, dass zwischen den Bezeichnungen, selbst wenn es sich um Orts- oder Berufsnamen handelt, und den Benannten in den wenigsten Fällen ein Zusammenhang nachweisbar ist. Für Hobbygenealogen mag dieses Säurebad der Wissenschaft einige Frustration bringen, lassen die Namen doch weniger Rückschlüsse auf die historischen Lebensumstände der Familie zu als auf die willkürlichen Ideen der Beamten, wobei Czakai auch die verbreitete Geschichte von den verpassten Spottnamen ins Reich der Fabeln verweist.

INDIVIDUALITÄT Nochems neue Namen macht plausibel, dass die galizische Kontrollmaschine im Zusammenhang mit der Herausbildung moderner Individualität und allgemeiner Staatsbürgerschaft gesehen werden muss, wozu die jüdische Besonderheit in dem Prozess eher relativiert wird. Durch diese Akzentuierung werden andere Ergebnisse der Studie jedoch etwas weichgezeichnet: Denn anders als den polnischen Untertanen, die sich in ihrer Sprache benannten, versagte die Obrigkeit den Juden jiddische und hebräische Namen und nötigte sie zu Bezeichnungen deutscher Sprache, welche sie an die aus Wien verkündeten Gesetze binden sollte.

Anders als die übrigen Ethnien in der Vielvölkerprovinz bildeten die Juden das zu disziplinierende »Andere« der Modernisierungsbemühungen, und zwar weil sie den Deutsch-Österreichern zu ähnlich und deshalb verdächtig waren: Jiddisch wurde als korrumpiertes Deutsch gewertet, das Juden zur Konspiration und Übervorteilung nutzten, weshalb es aus der Öffentlichkeit und der Namenswelt zu verschwinden hatte.

Die Behörden griffen auf Ortsnamen, Vaternamen und Berufsbezeichnungen zurück.

Es ist, so könnte man die Funde in Johannes Czakais großartigem und facettenreichem Buch weiterführen, ebenso folgerichtig wie tragisch, dass die deutschen Namen der Juden ihre Träger gut 100 Jahre nach ihrer Zwangsangleichung nun abermals zu ähnlich erschienen ließen, sodass sie in der »Volksgemeinschaft« mittels der Zusätze »Israel« und »Sara« wieder kenntlich gemacht werden mussten, um dann selbst diese irgendwann zu verlieren. »Ihr habt keinen Namen mehr«, beschrieb Primo Levi die Aussage der Nummerntätowierung in Auschwitz.

Vor diesem Hintergrund mag die Anhänglichkeit gegenüber den Familiennamen trotz aller Willkür ihrer Entstehung genauso verständlich sein wie das Unbehagen, das unserer Tage in vielen Gemeinden vernehmbar war, als gefordert wurde, wegen Corona Namenslisten für die Anwesenheit beim Gottesdienst zu führen. Es ist faszinierend, wie Johannes Czakai die Vorgeschichte dieser Befindlichkeiten, vergangene jüdische Lebenswelten, habsburgisches »Nation Building« und kritische Herrschaftstheorie über das Prisma des Namens zusammenzuführen vermag.

Johannes Czakai: »Nochems neue Namen. Die Juden Galiziens und der Bukowina und die Einführung deutscher Vor- und Familiennamen 1772–1820«. Wallstein, Göttingen 2021, 560 S., 58 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025