»Wellenschläge«

Wer Jiddisch spricht, versteht auch Afrikaans

Am seinem Sterbebett erinnert sich betsy an die Bootsausflüge mit ihrem Vater. Foto: Schöffling

Betsy spricht zu ihrem Vater. Er hört sie nicht mehr, liegt im Sterben. Sie erzählt ihm sein Leben, das Leben des Harold Klein, der jahrzehntelang als »Dr. God« verehrt wurde. Dazu ist sie – trotz ihrer Schwangerschaft – aus New York nach Kapstadt herbeigeeilt: »Gestern bin ich über Afrika geflogen, und jetzt bin ich hier, auf der Intensivstation des Groote Schuur, desselben Krankenhauses, in dem du zum Arzt ausgebildet wurdest und Chris Barnard 1967 die weltweit erste Herztransplantation durchführte.«

Harold Klein ist in eine jüdische Familie geboren. Über seine Eltern erzählt Betsy ihrem Vater: »Mum hat nie richtig Afrikaans gelernt. Bei deinem Vater war das anders. Mit seinem Russisch und Jiddisch und komischen Englisch ist er ins Afrikaans abgetaucht und nie mehr richtig aufgetaucht.« Diese jüdische Familie stammte aus Osteuropa und gelangte über viele Verfolgungsstationen nach England und von dort nach Südafrika. Betsys Großvater betrieb einen Landhandel mit allem. Ihr Vater wuchs an der Mündung des Flusses Touw auf, den er Jahrzehnte befuhr, zunächst mit dem Ruderboot, später mit einem fünfeinhalb-PS Motorboot, aufwärts bis »Ebb’n’ Flow«. Oft auch mit Betsy. Beide liebten diese Ausflüge.

apartheid Jetzt aber sitzt Betsy im Krankenhaus. Ihr Vater, der Arzt, ist zum Patienten geworden. Jahrelang hatte er seine Familie mit den Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend unterhalten und gequält. Jetzt kann die Tochter ihm und damit dem Leser alles wieder erzählen. Das ist eine ungewöhnliche Perspektive.

Das »Du« richtet sich an einen, der es nicht mehr hört. Es spricht, hierzulande in der von Miriam Mandelkow übersetzten deutschen Fassung, den Leser zugleich an und verfremdet den Monolog in eine anteilnehmende Beobachtung. Die Geschichte einer jüdischen Familie im rassistischen Südafrika, das sich in Teilen nur unwillig der Koalition gegen Hitlerdeutschland anschloss, entfaltet täglich grundsätzliche Reibungsflächen. Betsy ruft ihrem sterbenden Vater und damit eigentlich sich selbst in Erinnerung: »Das sind die falschen Gebete, sagst du ihnen. Bittet Gott lieber um Vergebung für Sharpeville vor vier Jahren, für euer elendes ›Teile und herrsche‹, getrennt aber gleich, eure nichtsnutzigen Apartheidgesetze.

Doch so recht hört keiner auf den Juden, der gerade mal dafür taugt, im Dunkeln rauszufahren, ausgerenkte Schultern einzurenken, brechende Herzen abzuhören. Doctor God kriegt jeden wieder hin. Er fasst klaglos weiße Haut an und schwarze und alle Braunschattierungen dazwischen.«

intensivstation Das einseitige Zwiegespräch ist wie ein Nachruf zu Lebzeiten. Die Perspektive wechselt ständig zwischen den Lebensorten des Vaters und der Intensivstation des Hospitals »Groote Schuur«. Das macht die in Südafrika geborene, seit vielen Jahren in New York lebende Autorin mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie die das Berufsleben des Vaters begleitenden medizinischen Vorgänge und Begriffe verwendet.

Manches Wort auf Afrikaans – das meiste versteht der deutsche Leser, der sich auf das Niederländische einlassen kann – verleiht diesem Roman eine ferne Authentizität, die den poetischen, sehnsuchtsvollen Grundton verstärkt. Betsy ruft die Erlebnisse wunderschöner Landschaften wieder auf. Sie waren eine Kraftquelle für das intensive Arbeitsleben des Arztes, und sie werden in der von ihm nicht mehr gehörten Ansprache von Betsy zu einem poetischen Kraftzentrum des Romans.

Es steht diagonal zu den Problemen, die ein Jude im Apartheidstaat haben musste, zu dem, was die Persönlichkeit des Harold Klein seiner Familie zumutete, zu der liebevollen Du-Hinwendung seiner Tochter, die einst vor ihm nach Amerika geflüchtet war.

Anne Landsman: »Wellenschläge«. Übersetzt von Miriam Mandelkow. Schöffling, Frankfurt/M. 2014, 266 S., 19,95 €

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025

Medien

»Die Kritik trifft mich, entbehrt aber jeder Grundlage«

Sophie von der Tann wird heute mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt. Bislang schwieg sie zur scharfen Kritik an ihrer Arbeit. Doch jetzt antwortete die ARD-Journalistin ihren Kritikern

 04.12.2025

Antisemitismus

Schlechtes Zeugnis für deutsche Schulen

Rapper Ben Salomo schreibt über seine Erfahrungen mit judenfeindlichen Einstellungen im Bildungsbereich

von Eva M. Grünewald  04.12.2025

Literatur

Königin Esther beim Mossad

John Irvings neuer Roman dreht sich um eine Jüdin mit komplexer Geschichte

von Alexander Kluy  04.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter, Imanuel Marcus  04.12.2025

Show-Legende

Mr. Bojangles: Sammy Davis Jr. wäre 100 Jahre alt geworden

Er sang, tanzte, gab den Spaßmacher. Sammy Davis Jr. strebte nach Erfolg und bot dem Rassismus in den USA die Stirn. Der Mann aus Harlem gilt als eines der größten Showtalente

von Alexander Lang  04.12.2025

Preisvergabe

Charlotte Knobloch kritisiert Berichterstattung von Sophie von der Tann

Dass problematische Berichterstattung auch noch mit einem Preis ausgezeichnet werde, verschlage ihr die Sprache, sagt die Präsidentin der IKG München

 04.12.2025

Philosophie

Drang zur Tiefe

Auch 50 Jahre nach ihrem Tod entzieht sich das Denken Hannah Arendts einer klaren Einordnung

von Marcel Matthies  04.12.2025

Kulturbetrieb

»Wie lange will das politische Deutschland noch zusehen?«

Der Bundestagskulturausschuss hörte Experten zum Thema Antisemitismus an. Uneins war man sich vor allem bei der Frage, wie weit die Kunstfreiheit geht

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025