Glosse

Wenn Praktikanten der EU Nahostpolitik machen

Das Berlaymont-Gebäude in Brüssel ist der Sitz der Europäischen Kommission. Foto: Michael Thaidigsmann

Rund 32.000 Mitarbeiter hat die Europäische Kommission. Nicht mitgezählt sind hier Kurzzeitbeschäftigte, Praktikanten und externe Dienstleister, die in den Büros der größten EU-Institution ihrer Arbeit nachgehen. Die Beamten und sonstigen Mitarbeiter stehen unter der Führung von 27 Kommissaren.

Aus jedem Mitgliedsstaat der EU wird eine oder einer nach Brüssel entsendet. Ein Kommissar ist mit einem Minister auf nationaler Ebene vergleichbar; das Kollegium der Kommissare, welches sich ein Mal pro Woche trifft, um die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, ist demnach das Brüsseler Äquivalent zum Regierungskabinett.

Neben der Europäischen Kommission gibt es seit einigen Jahren auch noch eine andere Institution, die eine Sonderrolle einnimmt: der Europäische Auswärtige Dienst (EAD). Er steht unter der Leitung des Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU, der die internationalen Beziehungen der Union koordinieren soll. Der Hohe Beauftragte (aktuell ist das der Spanier Josep Borrell) sitzt auch dem Rat der 27 EU-Außenminister vor. Er ist qua Amt zudem Vizepräsident der Kommission und muss somit auch die Entscheidungen des Kommissarskollegiums mittragen.

Zu dieser ohnehin schon komplizierten Struktur kommen noch weitere Elemente hinzu. So führt alle sechs Monate einer der EU-Mitgliedsstaaten im Rat – der Vertretung der Regierungen der Mitgliedsstaaten auf EU-Ebene – den Vorsitz. Diese sogenannte rotierende EU-Ratspräsidentschaft (aktuell hat Belgien sie inne) organisiert nicht nur die Treffen der einzelnen Fachräte (also beispielsweise den Rat der Landwirtschaftsminister). Sie versucht auch, Kompromisse zwischen den Mitgliedsstaaten zu finden und politische Initiativen voranzutreiben. Beispielsweise für mehr Klimaschutz oder verstärkte Anstrengungen gegen Antisemitismus.

Wer bestimmt die EU-Außenpolitik?

Die einzige Ausnahme bildet der Rat der Außenminister. Dort führt der Außenbeauftragte Borrell den Vorsitz, obgleich er nicht das Sagen hat, denn: Die Außenminister treffen ihre Entscheidungen fast immer einstimmig, und Borrell darf nicht abstimmen.

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Auch das Europäische Parlament (also die direkt gewählten Abgeordneten) und der Europäische Rat (die Staats- und Regierungschefs) spielen eine wichtige Rolle in außenpolitischen Fragen. Das Parlament, weil es dem Budget der EU zustimmen muss und regelmäßig mit dem Außenbeauftragten die Außenpolitik debattiert, der Europäische Rat, weil ohne die Impulse und Grundsatzentscheidungen der Chefetage in Brüssel wenig passieren würde.

Neben jenen Personen, die tatsächlich für die EU-Außenpolitik zuständig sind, gibt es auch noch solche, die sich für zuständig halten. Das betrifft nicht nur Teile des Brüsseler Pressekorps (den Autoren dieses Textes eingeschlossen), sondern auch einzelne Mitarbeiter der Kommission, ja sogar Praktikanten der EU-Kommission.

Zweimal im Jahr bekommen rund 1000 junge Menschen aus den EU-Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, ein fünfmonatiges Praktikum in der Kommission zu absolvieren. Diese Praktika sind bezahlt; ein »Stagiaire«, wie Praktikanten im Französischen und auch in der Brüsseler EU-Bubble genannt werden, bekommt monatlich knapp 1400 Euro an Aufwandsentschädigung.

Was hat das alles mit der EU-Außenpolitik zu tun? Eigentlich nicht viel. Sollte man jedenfalls meinen. Aber jetzt machten erneut Medienberichte die Runde, es gebe »wachsende interne Wut« und »Uneinigkeit innerhalb der Brüsseler Institutionen« über die Politik der Europäischen Union im Hinblick auf Israel. Das zumindest berichtet der »EU Observer«, ein in Brüssel ansässiges Nachrichtenportal zu EU-Themen, das traditionell sehr kritisch Israel gegenüber ist. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Artikel erscheint, in dem über die vermeintlichen Vergehen der nahöstlichen Besatzer informiert wird. Als »exclusive« wurde dort nun ein Bericht über eine Petition von Kommissionsmitarbeitern angekündigt, in der scharfe Kritik an der Nahost-Politik der EU geübt wird.

Dass es bei einigen in den EU-Institutionen Unmut gibt über Israel, ist nicht von der Hand zu weisen. Es gibt wahrscheinlich sogar ziemlich viele, bei denen das der Fall ist. Ob ihre Zahl in den vergangenen Wochen gewachsen ist, kann jedoch nicht festgestellt werden.

Der »EU Observer« führt aber als angeblichen Beleg genau dafür eine Petition auf der Plattform »Change.org« und einen Brief an den amtierenden EU-Ratsvorsitzenden an, den belgischen Premierminister Alexander De Croo, in dem dieser zu einer entschlosseneren Haltung Israel gegenüber aufgefordert wird.

Die Petition wurde vergangene Woche gestartet und ist seit Sonntag beendet. 1631 Personen haben unterzeichnet – weitaus weniger als ursprünglich angenommen, denn die Initiatoren hatten gehofft, wenigstens 5000 Unterschriften einzusammeln.

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In dem Brief, der der Jüdischen Allgemeinen vorliegt, heißt es, die Zahl der Menschen, die Israel in Gaza seit dem 7. Oktober getötet habe, sei »fast so hoch ist wie die Gesamtzahl der Mitarbeiter der Europäischen Kommission«. Gefordert wird ein europäisches Waffenembargo und die Aussetzung des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und Israel. Die EU-Entscheidungsträger hätten es versäumt, die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um »die israelische Führung dahingehend zu beeinflussen, dass sie ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommt, einschließlich ihrer Verpflichtungen als ›Besatzungsmacht‹«, heißt es in dem Briefentwurf, der beim gestrigen Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel an De Croo übergeben werden sollte.

Es sei jetzt an der Zeit, dass die EU alle ihr zur Verfügung stehenden Hebel nutze, um, so wörtlich, »die Militäroperationen in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten zu beenden, indem sie ähnliche Maßnahmen ergreift wie die gegen Russland«.

Für den »EU Observer« ist die Petition nur »das jüngste Zeichen der Wut und Frustration der EU-Mitarbeiter über die Gaza-Politik der Politik«. Bereits im Oktober gab es einen ähnlichen Brief, der medial große Wellen schlug. 800 EU-Bedienstete hatten darin an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geschrieben und ihren Unmut über die (ihrer Ansicht nach) viel zu starke Unterstützung für die Sache Israels kundgetan. Auch einen »Sit-in«, eine Sitzblockade, veranstalteten die Israel-Kritiker im Dezember. Bislang jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. »Leider wurden diese Appelle nicht beantwortet, geschweige denn eine Änderung der Politik in Aussicht gestellt«, schreiben sie in ihrem Brief an Alexander De Croo.

Wer der Sache aber auf den Grund geht, stellt schnell fest: Die beiden Petitionen wurden nicht nur von EU-Beamten unterschrieben, sondern auch von Praktikanten, von Studierenden am Europa-Kolleg in Brügge und anderen Menschen, die man schwerlich als »Kommissionsmitarbeiter« bezeichnen kann.

So verschickte beispielsweise eine italienische Praktikantin in der Abteilung für Migration und menschliche Sicherheit des EAD die Petition an große Verteilerlisten innerhalb der Institutionen und darüber hinaus. Sie verwendete dabei ihre dienstliche E-Mail-Adresse und gab die Postanschrift des EAD an.

In der auf Englisch verfassten Mail heißt es: »Da die EU in Bezug auf den Krieg gegen den Gazastreifen keine nennenswerte Änderung ihrer Politik vorgenommen hat, möchten wir uns an den belgischen Ratsvorsitz mit einer Reihe klarer Empfehlungen wenden, damit die EU ihren Einfluss geltend macht, um das Völkerrecht in Israel/in den besetzten palästinensischen Gebieten zu wahren.«

In Wahrheit eine Posse

Dass die Unterschriftenaktion durchaus problematisch sein könnte, auch im Hinblick auf den Verhaltenskodex für Kommissionsmitarbeiter, schien der Frau durchaus bewusst zu sein. »Leider gibt es keine EU-internen Instrumente, um Petitionen zu verbreiten (die Generaldirektion DIGIT warnte uns vor der Nutzung der EU-Umfrage). Die change.org-Petition ist auf EU-Mitarbeiter beschränkt und enthält nur sehr wenige Details, um ein Durchsickern (nach außen - Anm. d. Red.) zu vermeiden. Sie dient lediglich dazu, die Zahl der Unterzeichner zu zählen und die Namensliste für künftige Anfragen aufzubewahren.«

Ausdrücklich bitte die Praktikantin alle Unterzeichner, ihre offizielle EU-E-Mail-Adresse zu verwenden und gleichzeitig die Petition nicht außerhalb der Institutionen bekannt zu geben. In Großbuchstaben schreibt sie dann: »BITTE VERBREITEN SIE DEN BRIEF UND ERMUTIGEN SIE IHRE KOLLEGEN ZU EINER RASCHEN UNTERZEICHNUNG.«

Dass so eine Petition bei einem Verteilerkreis von 10.000 Personen oder mehr durchaus nicht vertraulich bleiben würde, dürfte auch der EAD-Praktikantin bewusst gewesen sein. Dass der »EU Observer« von der Petition erfahren sollte, war wohl beabsichtigt, und auch, dass er eine Story daraus machen würde mit der Überschrift »EU-Beamte verlangen Waffenembargo, der Unmut wächst«.

Dass eine solche Überschrift sich einzig und allein auf eine Change.org-Petition stützt, die von einer EAD-Praktikantin mitinitiiert wurde und auf gerade einmal 1631 Unterzeichner kam, erscheint angesichts der Zahl der Mitarbeiter in den EU-Institutionen reichlich verwegen, denn: Den politischen Einfluss von Stagiaires und Studierenden am Europa-Kolleg in Brügge auf die Nahostpolitik der Europäischen Union sollte man nicht überschätzen.

Diese Petition ist also kein Ausdruck von »Wut und Frustration unter EU-Beamten«, selbst wenn es diesen hier und da geben dürfte. In Wahrheit ist sie eine Posse.

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