Archiv

Von »Deutschen« und »Juden«

Richard C. Schneider Foto: dpa

Archiv

Von »Deutschen« und »Juden«

Warum die Affäre um einen umstrittenen Vorfall in Leipzig nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte des Antisemitismus ist

von Richard C. Schneider  07.04.2022 08:58 Uhr

Eigentlich will man es nicht glauben. Kann es sein, dass Gil Ofarim einfach nur ein riesiger Schm… ist? Kann es sein, dass er den Antisemitismus-Vorwurf tatsächlich missbraucht hat, weil er als vermeintlicher »Star« oder auch einfach nur als normaler Gast möglicherweise oder tatsächlich nicht anständig behandelt wurde?

Kann es sein? Kann das wirklich sein? Man will es nicht glauben. Es ist kaum vorstellbar, dass jemand aus Eitelkeit oder aus sonst irgendeinem Grund jemanden des Antisemitismus bezichtigt, wenn es überhaupt keinen Anlass dazu gegeben haben sollte.

HOTEL Möglicherweise werden wir nie wissen, was damals im »Westin«-Hotel in Leipzig wirklich geschehen ist. Und es wäre auch nicht fair und nicht richtig, Gil Ofarim bereits jetzt zu verurteilen, noch ehe ein Gericht dies getan hat. Also bleiben viele Fragen. Viele Unsicherheiten. Viel Kopfschütteln. Über die eine oder andere Seite. Irgendjemand sagt hier offensichtlich nicht die Wahrheit.

Es wäre nicht fair und nicht richtig, Gil Ofarim bereits jetzt zu verurteilen.

Die Folgen der Affäre Ofarim sind die üblichen. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer zeigt es in seinen Tweets. Er trifft bereits ein Urteil, auch wenn noch gar keines gefällt wurde. Und er macht mal wieder Gebrauch von einem klassischen Stereotyp, in dem er von »Deutschen und Juden« spricht. Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, dass Sie mal wieder klargestellt haben, dass Juden, zumindest in Ihren Augen, keine Deutschen sind.

HASHTAGS Und klar, das Netz ereifert sich. Und wer gern wissen will, wie sich antisemitischer Geifer anfühlt, wie er sich liest oder anhört, der muss nur die entsprechenden Hashtags eingeben. Man wird schnell fündig.

Und dann sind da plötzlich auch all die Verteidiger der jüdischen Gemeinschaft, die nun die Juden vor den Folgen des Bockmistes schützen wollen, den Gil Ofarim möglicherweise verzapft hat. Und sie merken nicht, dass sie in die »Kollektivfalle« getappt sind. Klar, man darf nicht naiv sein und glauben, dass die Ofarim-Geschichte nicht auf »alle Juden« umgemünzt wird. Nur, sorry: Immer unter der Prämisse, dass ja noch nicht geklärt ist, ob Ofarim »schuld« ist im Sinne einer möglichen Anklage – warum muss eigentlich irgendein anderer Jude sich diesen Schuh anziehen?

RESSENTIMENTS Was geht es irgendeinen Juden an, ob Ofarim ein eitler B- oder C-Star ist, der sich wichtig zu machen versuchte (wenn’s denn so ist)? Ist man als Jude für ihn verantwortlich, weil er irgendwie auch jüdisch ist? Nein, Gil Ofarim muss keinen einzigen Juden interessieren. Ja, natürlich – es interessiert »die anderen«. Nur, was ist daran so neu?

Die jüdische Geschichte ist voll von Beispielen irgendwelcher Juden, die irgendwas Blödes, Schlimmes oder Verbrecherisches getan haben – und schwups, wurden dafür alle Juden in Kollektiv-Verantwortung genommen. So auch jetzt wieder, nu schojn. Das ist nichts als der übliche Griff in die Mottenkiste antijüdischer Ressentiments und Reaktionen. Überrascht? Nein. Überrascht, dass es das noch in Deutschland 2022 gibt? Auch das nicht.

Ob der Sänger nun gelogen hat oder nicht – es ist den Antisemiten egal.

Antisemiten sind Antisemiten. Ob Gil Ofarim nun gelogen hat oder nicht, es ist den Antisemiten egal. Wenn nicht Ofarim, dann ist es »Moische Pipik« oder die »internationalen Eliten«, die »Zionisten« oder das »internationale Finanzkapital«, »George Soros« oder »die Globalisten« –die Liste ließe sich beliebig verlängern. Der einzelne »Skandal« ist unwichtig, er dient immer nur als Ausgangspunkt für eine neue antijüdische Erregungswelle.

INTEGRITÄT Die menschliche Integrität eines Gil Ofarim ist nicht das Problem der Juden. Es ist – möglicherweise – sein Problem. Und das des Menschen, den er möglicherweise fälschlich oder vorsätzlich des Antisemitismus bezichtigt hat. Vielleicht stimmt ja seine Version dennoch? Wer kann das wissen? Nur jemand, der dabei gewesen ist.

Die Ergebnisse der Untersuchung des Vorfalls sind noch nicht bewertet worden. Von keinem Richter. Ein Vorwurf steht im Raum. Und wenn der Sänger tatsächlich die Unwahrheit gesagt haben sollte, dann wird er mit den Konsequenzen leben müssen.

Doch angesichts der bedrohlichen Kriegs- und Krisenzeiten, in denen wir derzeit leben, darf man auch die Proportionen nicht vergessen: Egal, was die Wahrheit ist, die Ofarim-Affäre ist nichts als eine kleine Fußnote in der Geschichte der Menschheit. Und in der Geschichte des Antisemitismus.

Der Autor ist Publizist und Editor-at-Large bei der ARD. Er lebt in Tel Aviv.

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  14.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025