Pädagogik

Sicherheit vermitteln

Beim Workshop »Safer Space für Lehrer« mit Marina Chernivsky (M.) wurde in Gruppen gearbeitet. Foto: Zentralrat der Juden

Wie ein Klassentreffen: Die jährliche Tagung für Religionslehrkräfte versammelt Pädagoginnen und Pädagogen aus Deutschland und der Schweiz, die sich oft noch vom gemeinsamen Studium an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg kennen – dem Ort, wo Ende Februar auch das jüngste Treffen stattfand. Die Batterien aufladen, sich inspirieren lassen und untereinander austauschen: In Zeiten wie diesen scheint dies nötiger als je zuvor.

Überschattet wurde das Treffen von der Nachricht, dass Shiri Bibas und ihre beiden Söhne als israelische Geiseln in Gaza von Hamas-Terroristen grausam ermordet worden waren. Bei einer Gedenkzeremonie für die Familie an der Hochschule zeigte sich auch Rektor Andreas Brämer tief erschüttert.

Wie sehr das Massaker vom 7. Oktober 2023 in Israel und seine Folgen den Alltag von jüdischen Religionslehrern bis heute prägen, wurde in zwei Workshops der Psychologin Marina Chernivsky offenbar. Sie ist Leiterin des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und Geschäftsführerin der Beratungsstelle OFEK.

»Soll ich Haman mit der Hamas vergleichen?«, fragt sich eine Lehrerin.

»Die Pädagogik zum 7. Oktober müssen wir erst einmal erproben und weiterentwickeln«, sagte sie während des Workshops »Kinder und Jugendliche nach dem 7. Oktober begleiten. Was brauchen sie in der aktuellen Phase?«. Zunächst aber bot Chernivsky den Workshop »Safer Space für Lehrer: Der 7. Oktober als Ruptur oder Kontinuität in der jüdischen Geschichte?« an, der eindrücklich zeigte, an welche eigenen Grenzen Pädagogen stoßen und wie sie Kraft und Energie schöpfen können.

Antisemitismus muss schon seit Jahren im Klassenzimmer aufgefangen werden

Wie viel Antisemitismus schon seit Jahren im Klassenzimmer aufgefangen werden muss, schilderte die Religionslehrerin und Buchautorin Michaela Rychlá aus München. »Werden wir jetzt auch erschossen?«, hätten sie verängstigte Schüler nach einem Anschlag auf eine jüdische Schule in Europa gefragt. Ihre Antwort: »Sollte der Ewige es so beschließen, dann hoffe ich, dass ich die Kraft haben werde, mich vor euch zu stellen!« Nach dem 7. Oktober habe sie beobachtet, »dass Kinder, die vorher gelacht haben, nur noch weinen«. Über sich selbst in den vergangenen Monaten sagte Rychlá: »Ich bin noch nie im Leben so kaputt von der Schule nach Hause gekommen.«

Eine andere Religionslehrerin fragte in die Runde, wie viel Politik im Unterricht vorkommen solle: »Ich habe auch eine Pflicht, Purim zu unterrichten, nicht nur, über Geiseln zu sprechen. Und soll ich Haman mit der Hamas vergleichen? Hilft das den Kindern bei der Bewältigung?«

Nurith Schönfeld, Fachleiterin für jüdische Religion an der I. E. Lichtigfeld-Schule in Frankfurt, sprach ein weiteres Dilemma an, das viele ihrer Kolleginnen beschäftigt. »Manche sagen, das Wichtigste ist Normalität. Andere meinen: In jüdischen Räumen, also in Schulen, Machanot und Jugendzentren, müssen wir anfangen, völlig neu zu denken. Sollten wir also alles auf den Kopf stellen und unser Konzept nach dem 7. Oktober völlig ändern?«

»Was sollen wir sonst tun, wenn nicht umdenken? Das betrifft nicht nur den Unterricht, sondern auch alles andere«, antwortete Marina Chernivsky. Eindringlich appellierte sie an die Pädagogen: »Wir sind für die Kinder verantwortlich, nicht umgekehrt. Das Wichtigste sind Sicherheit und Struktur.«

Lehrer dürften ihre Schüler »nicht mit Bildern oder den letzten Details eines Massakers konfrontieren«. Es gehe darum, Kinder über das Nötigste zu informieren. »Aber Lehrer sollen sich auch fragen, ob sie gleichzeitig Sicherheit vermitteln können.« Denn Kinder seien in ihrer Entwicklung gefährdet, wenn sie sich dauerhaft unsicher fühlen.

Das Bild von Israel und der israelischen Armee

Unterschiedliche Ansichten gab es zu einer Buchempfehlung von Gabriela Schlick-Bamberger, Leiterin der Jeschurun-Religionsschule der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Die Pädagogin schlug vor, jüdischen Schülern hierzulande ein positives Bild von Israel und der israelischen Armee zu vermitteln, indem man etwa das Buch The Heroes of October 7th. Heroic Stories for Children der Israelin Hadassa Ben Ari im Unterricht berücksichtige.

Dagegen wurde eingewandt, nicht betroffene Kinder sollten den 7. Oktober nicht stellvertretend für etwas anderes erleben. Ein solches Buch könne Kinder möglicherweise in ein traumatisches Erleben hineinkatapultieren.

Wie vermittelt man jüdische Aufklärung, wenn der Begriff »Ghetto« nicht verstanden wird?

»Historische Orientierungskompetenz aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik« lautete ein weiterer Workshop der Tagung, bei dem Sebastian Barsch, Professor für Geschichtsdidaktik an der Universität zu Köln, per Video zugeschaltet wurde. Mit welchen Herausforderungen Lehrerinnen und Lehrer im Schulalltag zu kämpfen haben, zeigte sich zum Beispiel, als eine Pädagogin sagte, viele ihrer Schüler hätten keine Ahnung, was die Französische Revolution bedeute. Wie könne sie jüdische Aufklärung vermitteln, wenn nicht einmal bekannt sei, was man unter einem Ghetto versteht?

Auf ein positives Echo stießen Barschs Vorschläge, Karten, Perlen oder Schnüre zu verwenden, um verschiedene Zeiten und Zeitebenen haptisch erfahrbar zu machen. »Ich werde demnächst einmal Ihre Methoden verwenden. Das habe ich mitgenommen«, sagte eine Lehrerin – stellvertretend für viele ihrer Kollegen, die gestärkt aus der Tagung hervorgingen und sich schon auf das Treffen 2026 freuen. Denn ab jetzt heißt es: Nächstes Jahr in Heidelberg!

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