Schtetl

Schoffmanns Erzählungen

Gerschon Schoffmann schrieb von der ersten Veröffentlichung an auf Hebräisch. Nun erscheinen seine Erzählungen erstmals auf Deutsch. Foto: PR

Schtetl

Schoffmanns Erzählungen

Der Schriftsteller Gerschon Schoffmann lässt die Welt der Diaspora wiederauferstehen

von Marko Martin  19.02.2018 18:32 Uhr

»Das Unglück trägt immer weit.« Es sind keine Geschichten von der vermeintlich »guten alten Zeit«, die in dem Band Nicht für immer versammelt sind. Ihr Autor Gerschon Schoffmann wurde 1880 in einer Kleinstadt im heutigen Weißrussland geboren und starb 1972 in Gedera, Israel, wo er als wichtiger Vertreter der frühen hebräischen Moderne galt. Inzwischen ist er nahezu vergessen, sodass das Engagement des Grazer Droschl-Verlages nicht genug zu loben ist, nun eine umfangreiche Auswahl von Schoffmanns Erzählungen herauszubringen – erstmals in deutscher Sprache.

Die Übersetzung von Ruth Achlama liest sich derart flüssig, als hätte der zwangsweise weitgereiste Schriftsteller auch im Original auf Deutsch geschrieben, Dorf- und Kalendergeschichten mit Anklängen an Johann Peter Hebel oder Oskar Maria Graf. Doch obwohl er, aus der zaristischen Armee desertiert, bereits 1904 ins habsburgische Galizien geflohen war und bis zu seiner Übersiedlung ins damalige Palästina im Jahre 1938 mit Frau und Familie unter prekären Bedingungen in einem Vorort von Graz lebte, veröffentlichte Gerschon Schoffmann zeitlebens nur auf Hebräisch. Geprägt von der Haskala, korrespondierte er mit dem berühmten Josef Chaim Brenner und übersetzte Anton Tschechow und Peter Altenberg.

Czernowitz Die jetzige Auswahl gibt nicht nur einen Einblick in sein umfangreiches erzählerisches Werk, sondern lässt auch eine russisch-galizisch-österreichische Welt wiederauferstehen, die denkbar unwirtlich ist. In Czernowitz etwa – das in unserer Wahrnehmung ja längst zum verkitschten Literaten-Elysium geronnen ist – wird er im Ersten Weltkrieg Zeuge einer »Aufknüpfung«, bei der alle Gaffer den letzten Atemzügen des Opfers lauschen. »Etwas von diesem ›Freudentaumel‹ bekamen alle mit in den Kaffeehäusern, beim Barbier, und nur einer hörte all das mit Unwillen, geringschätzig, mit halbem Ohr. Das war Herr Lang, der Henker.«

In anderen Geschichten wird mit skeptischen jüdischen Augen das Treiben von Dorfburschen betrachtet, die Schweine schlachten, saufen und sich prügeln, mitunter aber auch gefühlig auf der Mundharmonika spielen. »Keine Musik der Welt berührt meine Seele so sehr wie dieses nächtliche Harmonikaspiel draußen, das ferner und ferner klingt. Tief drinnen in ihnen steckt doch ein anderer Mensch.« Man liest diesen Text aus dem Jahre 1929 nicht ohne Schaudern: Welche erneute Wandlung würde wohl von diesen sentimentalen Grobianen in Zukunft zu erwarten sein?

Wie befreiend dann dies, eine der ersten in Eretz Israel entstandenen Erzählungen und die letzte in diesem Band: »Komme ich an einer Schule vorbei und höre den wohltönenden Lärm der Kinder, erinnere ich mich an den Lärm der nichtjüdischen Schulen in der Diaspora, den Lärm der Kinder des herrschenden Volkes, in den sich die Stimmen der wenigen jüdischen Schüler nicht mischten. Deshalb halte ich jetzt zur Pausenzeit gern vor unseren Schulen inne und lausche dem süßen Lärm, dem ganzen Freiheitstaumel, der aus den oberen Fenstern dringt, stehe lange da und lausche und freue mich dran ohne Ende.« Wie gut, dass Gerschon Schoffmann nun auch von deutschsprachigen Lesern entdeckt werden kann!

Gerschon Schoffmann: »Nicht für immer«. Droschl, Graz 2017, 352 S., 25 €

Sehen!

»Der Meister und Margarita«

In Russland war sie ein großer Erfolg – jetzt läuft Michael Lockshins Literaturverfllmung auch in Deutschland an

von Barbara Schweizerhof  30.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

 30.04.2025

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025