Venedig

Politikermord und Ehekrise

Kaum zu glauben, dass das schon 20 Jahre her ist – jener Samstagabend des 4. November 1995, an dem der damalige israelische Premierminister Yitzhak Rabin ermordet wurde. Sein Mörder war kein Araber, sondern ein gläubiger Jude: Yigal Amir, Talmudstudent und Soldat, der sich zur Rechtfertigung des Mordes auf religiöse Vorschriften berief.

Die Untersuchung des Anschlags öffnete damit die Tür zu den inneren Abgründen Israels, einer Schattengesellschaft, die religiösen Fundamentalismus mit Hysterie und Verschwörungstheorien verband. Unbequeme Fragen tauchten auf, denen sich Israels Gesellschaft nur zögerlich stellen wollte – bislang machte auch das Spielfilmkino einen großen Bogen um dieses Ereignis.

Verschwörungstheorien Jetzt hat Amos Gitai, der international bekannteste und nach wie vor wohl renommierteste israelische Filmregisseur, dieses heiße Eisen angepackt: Rabin, the Last Day läuft bei den Filmfestspielen von Venedig im Wettbewerb um den Goldenen Löwen. Der Film konzentriert sich, wie vorab zu erfahren war, offenbar auf die letzten Stunden im Leben Rabins und auf die Folgen des Mordes.

Zentrale Themen des Films sind: Scham und Selbstzweifel unter Israels religiösen Juden, die Rabin noch kurz vor seiner Ermordung öffentlich verunglimpft hatten, auf die politische Rechte, die Hetzkampagnen gegen Rabins Friedenspolitik organisiert hatte, auf jene Sicherheitsbeamte, die Hinweise auf einen Anschlag hatten und ihn doch nicht verhindern konnten, sowie auf einige der Verschwörungstheorien, die bis heute um den Mord kreisen. Der 35. Film des 1950 geborenen Gitai soll auch Dokumentarmaterial verarbeiten.

Davon abgesehen, dass Gitai in Venedig Stammgast ist, passt der Film auch sonst gut ins Programm eines Filmfestivals, dessen Programm seit jeher durch politisch brisante Themen gekennzeichnet ist. 2009 gewann hier Samuel Maoz’ Lebanon den ersten Goldenen Löwen für Israel – ein bis heute auch in seiner Heimat umstrittener Kriegsfilm.

lässig Die 1932 gegründeten Filmfestspiele sind aber nicht nur das älteste Filmfestival der Welt, die »Mostra de Cinema« hat seit jeher auch einen ganz eigenen Charakter: Wo Cannes unangefochten für die Haute Cuisine des Autorenkinos steht und die Berlinale ein lautes, oft vulgäres Volksfest ist, da repräsentiert Venedig den gelassenen, oft lässigen Umgang mit der Kunst des Kinos, einen Umgang, der lebensfroh ist und wo man sich selbstverständlich für den roten Teppich gut anzieht, aber andererseits nie auf den Gedanken käme, einen Gast, der seine Individualität mit zerrissenen Turnschuhen beweisen will, vor dem Kino abzuweisen.

In diesem Jahr laufen hier viele Filme mit jüdischen Bezügen und neben Gitais Beitrag noch zwei weitere Filme aus Israel, beide von jungen Frauen, die als Hoffnungsträgerinnen des jüngeren israelischen Kinos gehandelt werden: Ein derzeit sehr modisches Thema, nicht nur unter israelischen Filmemachern, ist die Lebenswelt orthodoxer Juden. Auffallend oft und weit überproportional – gemessen am Bevölkerungsanteil der Chassiden – tauchen Leben und innere Konflikte Strenggläubiger derzeit in Festivalfilmen auf – oder Filme mit diesen Themen werden besonders gern genommen.

Vielleicht spielt hier der Reiz des Exotischen eine Rolle, vielleicht auch das allgemein gewachsene Interesse an religiösem Fundamentalismus. Man darf gespannt sein, wie es der Regisseurin Yaelle Kayam in ihrem Spielfilmdebüt Mountain, das in der Nebensektion »Orizzonti« gezeigt wird, gelingen wird, dem Sujet noch Neues abzugewinnen. Kayam thematisiert die Ehekrise und die Gewissenskonflikte einer jungen verheirateten Frau, die unter der Distanz zu ihrem Mann leidet. Bei einem ihrer einsamen Spaziergänge ertappt sie ein Liebespaar, das auf einem Friedhof Sex hat – verstört kehrt sie zurück nach Hause, doch das Erlebnis lässt sie nicht los.

Freiheit Der Film Lama azavtani (Why Hast Thou Forsaken Me) von Hadar Morag läuft ebenfalls in den »Orizzonti«. Ein arabischer jugendlicher Kleinkrimineller und ein älterer, einsamer jüdischer Außenseiter, der mit dem Motorrad durch die Straßen streift und sein Geld als Messerschärfer verdient, freunden sich an. Gemeinsam ist dem ungleichen Paar, dass sie um Freiheit und Autonomie kämpfen. Die junge Regisseurin Morag war bereits 2008 mit ihrem Film Silence auf dem Festival von Cannes vertreten.

Einen ganz anderen Ton schlägt vermutlich Klezmer an, ein polnischer Film über die Zeit der deutschen Besatzung 1939 bis 1944 und die bis heute andauernde Verdrängung der polnischen Beteiligung und Mitschuld an der Schoa. Regisseur Piotr Chrzan erzählt in seinem Filmdebüt, das in der renommierten Sektion »Giornate degli Autori« Premiere hat, von einer Gruppe junger Polen. An einem Sommertag 1943 hoffen sie, Krieg und Leid für ein paar Stunden verdrängen zu können. Sie gehen im Wald spazieren, sammeln nebenbei Feuerholz, als sie Zeugen eines Massenmords an polnischen Juden werden.

Chrzan erzählt im Katalog von einem erschütternden Kindheitserlebnis: »Als Kind spielte ich irgendwann mit anderen im Garten hinter einem großen Haus in unserer Nachbarschaft. Wir tollten herum, als irgendwann unser Kindermädchen rief: ›Lauft da nicht rum, dort haben sie die Juden vergraben!‹ Sie erzählte uns, die polnische Polizei habe sie an einem Sommertag erschossen. Diese Tatsache, bizarr-faszinierend für ein Kind, ließ mich nicht mehr los. Ausgehend von dieser Erinnerung wurde mein Film Klezmer geboren.«

Lebenswerk Besonderes Interesse verdient ohne Frage Noah Baumbach. Der ungemein kreative New Yorker (derzeit in deutschen Kinos mit Gefühlt Mitte Zwanzig) hat nach mehreren Spielfilmen jetzt einen Dokumentarfilm gedreht: De Palma entstand zusammen mit Jake Paltrow und widmet sich einem der interessantesten US-Regisseure der letzten Jahrzehnte, dem Italoamerikaner Brian De Palma (Dressed to Kill, Scarface). De Palma wird in diesem Jahr am Lido für sein Lebenswerk geehrt.

»De Palma ist ein echter Autorenfilmer und seit den 70er-Jahren einer der innovativsten Regisseure, die ich kenne«, erklärte Baumbach zur Begründung. Er und Paltrow haben sich mit De Palma in den vergangenen zehn Jahren immer wieder zu Interviews getroffen. »Es waren für mich enorm bereichernde Gespräche, auch wenn ich selbst ganz andere Filme mache«, so Baumbach.

Auch in anderer Weise feiert man in Venedig die Kinogeschichte: Neben Orson Welles Shakespeare-Verfilmung Der Kaufmann von Venedig, die zur Feier von Welles’ 100. Geburtstag am Abend vor der Eröffnung den ersten Besuchern als Avant-Premiere gezeigt wurde, führt man auch eine restaurierte Fassung von Ernst Lubitschs Komödie Heaven Can Wait vor. Ein gutes Motto für ein Festival wie dieses – zwei Wochen lang feiert hier das Kino ganz lässig und selbstbewusst sich selbst. Der Rest kann warten.

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