Das Berliner Musikfest, mit seinen überwältigend vielfältigen, und immer wieder unterschiedlich beeindruckenden Angeboten internationaler Orchester, die Werke der beiden modernen Komponisten, Luciano Berio und Pierre Boulez aufführen, hat einen ganzen Tag, Sonntag, den 21. September, der Wiederentdeckung des amerikanisch-jüdischen Komponisten Marc Blitzstein gewidmet.
Es begann mit der Nachmittagsvorstellung im Kammermusiksaal unter dem Titel »From Bauhaus to Broadway«. Kai Heinrich Müller, der seit Jahren über Bauhaus und Musik forscht und die »Transatlantische Konzert- und Festivalreihe Opera & Democracy des Thomas Mann House Los Angeles« leitet, hat dabei sachkundig Songs und Musikstücke von vier Komponisten vorgestellt und auf deren Beziehung zum Bauhaus hingewiesen: angefangen mit dem deutschen Kantorensohn Kurt Weill, bekannt als Komponist der »Dreigroschenoper«, über den Amerikaner George Antheil, den Erfinder der »mechanischen Musik«, den »Übervater der Moderne« Paul Hindemith und schließlich den Amerikaner Marc Blitzstein.
Die von vier Musikerinnen schwungvoll vorgetragenen Kompositionen sind beeindruckend – aber hinreißend, beflügelnd wird der Nachmittag da, wo die schwedische Sopranistin Camilla Tilling, die man als schwebende, Nachtigallen-hafte Mozart und Bach-Interpretin kennt, Weill- und Blitzstein-Songs interpretiert, und dabei bis zum Falsett und zur Stimmverzerrung jedes stimmliche und darstellerische Mittel einsetzt. Beginnend mit einer den Saal zum Toben bringende Wiedergabe von Weills »falsch-amerikanischem« Alabama-Song über die unerreichbare »Whisky Bar« zu Weills original-amerikanischen Broadway-Hits. Tillings Blitzstein-Interpretation, bei der sie sich in Text und Töne geradezu hineinlehnt und jedem Wort (ob man es nun versteht oder nicht) Geltung und Bedeutung verschafft, macht deutlich, wieso Leonard Bernstein gerade diesen Komponisten als beispielhaft für die Vertonung des gesprochenen Amerikanisch pries.
Weltpremiere der Blitzstein-Oper »Parabola and Circula«
Wechsel in die große Philharmonie zur Welturaufführung einer frühen Blitzstein-Oper, die 100 Jahre unentdeckt im Bauhaus-Archiv ruhte. Vor dem Einlass Taschenkontrollen, im Publikum politische Prominenz, diplomatisches Korps, für Berliner Verhältnisse ungewöhnlich prächtige und elegante Toiletten. Die Aufführung wird mit einem Grußwort des Bundespräsidenten eröffnet, der die jahrelangen Bemühungen des Bauhaus-Archivs um diese Oper lobt und auf die Geschichte und Bedeutung des Bauhauses verweist, das 1919 in Weimar gegründet und 1925 nach Dessau umziehen musste, um, wenn alles gut ging, nach 1933 im Exil weitermachen zu können. Er unterstreicht, wie wichtig der Schutz einer Demokratie für die Kunst sei, der sie, »bis auf menschenfeindliche Hetze«, jede Freiheit zugestehen solle. Auch er wisse nicht, was ihn erwarte, und freue sich auf den Abend.
Und dann beginnt die Welturaufführung durch das schwedische »Norrköping Symphony Orchestra«, das vom ehemaligen Berliner Philharmoniker Karl Heinz Steffens dirigiert wird. »Parabola and Circula« ist, anders als das ein heutiger Trickfilm- und Computeranimations-gewohnter Zuschauer erwarten würde, keineswegs ein freches oder munteres Spiel mit geometrischen Formen und deren mathematisch bestimmten Eigenarten, sondern vielmehr eine späte symbolistische Oper mit romantischer »großer«, mächtiger und gelegentlich übermächtiger Musik.
Die durch ihre geometrische Gestalt eher etikettierten als charakterisierten Figuren bewohnen eine von Blumen, Kälte, Wärme, Einsamkeit und Licht bestimmte Welt, in der sie sehr menschliche Arbeiten wie Brunnenputzen und Hoffegen durchführen und unterschiedliche menschliche Stimmungen und Gefühlshaushalte verkörpern; das von »Parabola« und »Circula« adoptierte Rechteck »Rectangula« (Tenor) ist nüchtern und gefühlsarm, seine Adoptivschwester, das Pünktchen »Intersecta« (Sopran), verspielt und lieb; ein »Prisma« (Tenor) erweist sich als schurkisch, »Linea« (Mezzosopran) als tückisch und neidisch, und »Geodesa«, Erdvermessung (Bass) als plump und aggressiv.
Tragische Vorwegnahme seiner eigenen Ehegeschichte
Im Mittelpunkt der Oper steht die Ambivalenz des männlichen Baritons »Parabola«, der einerseits die Vollkommenheit und Schönheit seiner Gefährtin »Circula« nicht genug besingen kann, während er zugleich diese Vollkommenheit, eben weil sie vollkommen ist, nicht ertragen kann und seine große Liebe, nachdem er sich von den »bösen« Figuren hat aufhetzen lassen, mit einem Vektor – in der Oper eine Art giftiges, ständig wachsendes Tier - zerstört.
Die von Blitzstein seiner späteren Frau Eva Goldbeck gewidmete und 1929/30 entstandene Oper wirkt wie eine tragische Vorwegnahme seiner eigenen Ehegeschichte: Der offen schwule Marc Blitzstein hat die Schriftstellerin Eva Goldbeck 1933 schließlich geheiratet – doch nur um sie 1936, drei Jahre später, wie »Parabola« seine »Circula«, wenn auch gewiss ohne eigene Schuld, an ihre Magersucht zu verlieren. Keine leichte Kost, aber eine mutige und spannende Bemühung um das Werk eines amerikanisch-jüdischen Komponisten, den zur Kenntnis zu nehmen sich auf jeden Fall lohnt.