Graphic Novel

Mendelmanns Untergang

Realistisch recherchiertes Schtetl-Leben:Szene aus »Markttag« Foto: Reprodukt, Berlin

Graphic Novel

Mendelmanns Untergang

James Sturms »Markttag« zeigt das Schtetl-Leben ohne falsche Romantik

von Tobias Prüwer  20.06.2011 16:26 Uhr

Irgendwo in Osteuropa, irgendwann im frühen 20. Jahrhundert liegt ein Mann nachts wach. Er fiebert dem Morgen entgegen, an dem er einmal mehr zum Markt in die Stadt aufbrechen wird. Zudem lässt ihn die Angst um seine Frau Rachel und ihr ungeborenes Kind schlecht schlafen. Noch vor den ersten Lichtstrahlen bricht der Teppichknüpfer Mendelmann – man erfährt nur den Nachnamen – auf. In schleierverhangenen Bildern lässt der Mann seine kleine Siedlung hinter sich und trottet mit seinem Eselgespann voller Waren einsame Wege und Straßen entlang. Er zählt seine Schritte, während er Bildrahmen um Bildrahmen durchquert – das besondere Taktmaß verleiht ihm einen beruhigenden Rhythmus. Diesen sucht Mendelmann auch in seinem Handwerk, das für ihn mehr als bloßer Broterwerb ist. Teppichknüpfen erachtet er als Kunst, mit der er die Welt bemessen kann und erst richtig wahrnimmt. So dient der Sonnenaufgang unterwegs zur Inspiration für ein leuchtendes Muster.

schattenseiten Massenware statt Handwerkskunst: Im Schtetl angekommen, muss Mendelmann nach kurzer Freude über das fröhliche Markttreiben erfahren, dass seine Teppiche keinen Absatz mehr im Stammladen finden. An ihrer Stelle wird billige, industriell gefertigte Massenware feilgeboten. Mendelmanns zwei Freunde, der eine Tischler, der andere Mesusa-Schnitzer, teilen sein Schicksal. Eine neue Ära ist angebrochen. Verschleudern oder verhungern lautet die schlechte Wahl. Mit einem Mal treten die Schattenseiten des Schtetls zutage, in dem eine überwiegende Unterschicht von der Hand in den Mund lebt. Die Ausgeschlossenen, Entstellten werden sichtbar, und die leise Melancholie weicht tiefdunkler Trostlosigkeit, in der Mendelmann mit seiner Handwerkskunst hadert.

Mit grobem, meist dickem Strich hat James Sturm den Clash der Zeitalter in Szene gesetzt. Zur Recherche griff er unter anderem auf die Fotografien von Roman Vishniac und Alter Kacyzne zurück, die den Schtetl-Alltag im frühen 20. Jahrhundert festhielten. Es ist nicht das erste Mal, dass der 1965 in New York geborene Autor und Zeichner jüdische Lebenswelten thematisiert. Bekannt machte ihn The Golem’s Mighty Swing, das vom Magazin Time zur besten Graphic Novel 2001 gekürt wurde. Das Buch handelt von dem jüdischen Reise-Baseballteam Stars of David, das in den 1920er-Jahren als Amüsierbetrieb durch Amerika zog und immer wieder antisemitische Gewalt auf sich zog.

teppichmuster Eigentlich hatte Sturm Markttag als Kindergeschichte geplant. Herausgekommen ist eine optisch bestechende Parabel für Erwachsene. Als einfache Struktur aus schwarzen Linien und monochromen Flächen haftet den Bildern ein leichter Cartoonstil an. Wie unter Zeitlupe tritt der Markt mit seinen Gewerben und seinem Gewimmel in den Leserblick. Streckenweise werden Handelsszenen zu abstrakten Teppichmustern. Wortwörtliche Reflexionen über Gott und die Handwerkswelt finden sich eingeflochten: »Etwas so Gewöhnliches wie ein Teppich kann nämlich die Gaben und Wunder Gottes darstellen– die ersten Schritte eines Kindes, den ersten Augenblick des Sabbat oder den herrlichen Trubel am Markttag.«

In der ruhigen Erzählung, die ihre melancholischen Züge im Stil der Romane Michael Chabons voll auskostet, fügen sich Bilder von schwermütiger Poesie zum nuancierten Lebensbild, in dem Tradition und Moderne aufeinanderprallen. Am kleinen Beispiel zeichnet Sturm die Veränderungen nach, welche die Handwerkskunst im Zeitalter ihrer maschinellen Reproduktion erfährt. Mendelmann ist einer von vielen, die sich einer veränderten Arbeitswelt stellen müssen – und dadurch ist Markttag nicht nur ein historisierendes Bilderbuch.

James Sturm: Markttag, Reprodukt, Berlin 2011, 96 S., 20 €

Am 24. Juni um 18 Uhr spricht James Sturm im Amerika Haus München über die Entstehung von »Markttag«.
www.amerikahaus.de

Hochstapler

»Tinder Swindler« in Georgien verhaftet

Der aus der Netflix-Doku bekannte Shimon Hayut wurde auf Antrag von Interpol am Flughafen festgenommen

 16.09.2025

Eurovision Song Contest

Streit um Israel: ESC könnte wichtigen Geldgeber verlieren

RTVE ist einer der fünf größten Geldgeber des Eurovision Song Contest. Umso schwerer wiegt der Beschluss, den der spanische Sender verkündet

 16.09.2025

Literatur

Bestseller aus Frankreich: »Der Barmann des Ritz«

Philippe Collin hat ein packendes Porträt über einen jüdischen Barkeeper im Zweiten Weltkrieg geschrieben

von Sibylle Peine  16.09.2025

Belgien

Gent bleibt hart: Lahav Shani bei Festival weiter unerwünscht

Nach massiver Kritik befasste sich der Verwaltungsrat des Musikfestivals am Montagabend erneut mit der Ausladung der Münchner Philharmoniker. Es blieb bei der Ausladung

von Michael Thaidigsmann  16.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  16.09.2025 Aktualisiert

Nach Absage in Belgien

Lahav Shani in Berlin: Ein außergewöhnliches Konzert

Der Israeli hielt die Spannung mit den Händen – der Dirigent und die Münchner Philharmoniker wurden mit Standing Ovations gefeiert

von Maria Ossowksi  16.09.2025

Berlin

Kulturausschuss lädt Dirigenten Lahav Shani zu Gespräch ein

Die Konzert-Absage an den israelischen Dirigenten sorgt für Kritik - und für Gesten der Solidarität. Nach einem Konzert in Berlin macht auch der Kulturpolitiker Sven Lehmann eine Ansage

 16.09.2025

Nach Absage in Belgien

Dirigent Shani in Berlin gefeiert

Nach der Ausladung von einem Festival werden die Münchner Philharmoniker und ihr künftiger Chefdirigent Lahav Shani in Berlin gefeiert. Bundespräsident Steinmeier hat für den Fall klare Worte

von Julia Kilian  15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025