Literatur

»Historiografischer Coup«

Sebastian Moll wurde 1964 in Frankfurt am Main geboren. Er lebt als Journalist und Buchautor in New York. Foto: © Wolfgang Wesener/Suhrkamp Verlag

Die Haupthalle der Paulskirche ist seit deren Wiederaufbau im Jahr 1948 von karger Schlichtheit geprägt. Die Bestuhlung der Rotunde, eher einer parlamentarischen als einer kirchlichen Sitzordnung nachempfunden, läuft auf eine leicht erhobene »Sprechstelle« zu, deren Ausgestaltung in Muschelkalk ein wenig an das marmorne Sprecherpult der UNO-Vollversammlung erinnert. Bis auf die Orgel über dem Sprecherpult sind die Wände kahl, zentrales Gestaltungselement ist das Licht, das aus einer Deckenöffnung, auf die eine spiralförmige Holzkonstruktion hinführt, den Raum durchflutet.

Um dies zu ermöglichen, wurde 1948 auf einen Wiederaufbau des zerbombten Giebeldachs verzichtet. In den Saal gelangt man aus einem düster beklemmenden Eingangsbereich über eine schmale Treppe, deren Besteigung den Weg des deutschen Volkes von der Finsternis des Nationalsozialismus in das Licht der Demokratie symbolisieren sollte.

Die Revisionisten finden, dass es diesem Ort an »Aura« fehle.

Nur Monate vor meinem Besuch hatte an der »Sprechstelle« Frank-Walter Steinmeier gestanden und seine Rede zum 175. Geburtstag der deutschen Demokratie gehalten. Ob sich Steinmeier an jenem Rednerpult, an dem schon Thomas Mann, Martin Buber und John F. Kennedy über ihre Hoffnung für die deutsche Demokratie gesprochen hatten, an dem Zustand der Paulskirche gestört hat, kann man nicht wissen.

Sicher ist jedoch, dass es dem berichtenden Feuilletonredakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« peinlich war, wie sich die Kirche zum Andenken an 1848 der Welt präsentierte. Es war ihm jedenfalls wichtig, in seinem Artikel darauf hinzuweisen, dass die Fahnen verblichen, der Putz ergraut und in den Hängelampen zahlreiche Leuchten defekt seien.

Die Paulskirche bedarf einer Generalüberholung

Darüber, dass die Paulskirche einer Generalüberholung bedarf, ist man sich in Frankfurt seit Jahren einig. Uneins ist man sich freilich darüber, wie diese Überholung aussehen soll. Eine stimmgewaltige Gruppe um den Politikwissenschaftler Herfried Münkler, Mitglied der »Expertenkommission« des Bundestages zur Errichtung einer Gedenkstätte zur deutschen Demokratie, fordert etwa, dass das Ergebnis des hastigen Wiederaufbaus der Kirche im Jahr 1948 dringend revidiert werden müsse.

Die Revisionisten finden, dass es diesem Ort an »Aura« fehle. Man möchte die Gestalt der Kirche im Zustand von 1848 wiederherstellen oder zumindest das Feeling jener Zeit. Mit welchen Mitteln das geschehen soll, bleibt weitestgehend vage. Fest steht, dass die Empore rund um die Halle wiedererrichtet werden soll, von gotischen Ornamenten, die es auch damals nicht gab, ist ebenfalls die Rede. Einige der Revisionisten fordern gar die Verhüllung der Orgel mit dem Gemälde Germania.

Die Architekten des Wiederaufbaus im Jahr 1948, alles ausgewiesene Modernisten, hatten sich indes dezidiert gegen eine historisierende Rekonstruktion gewendet. Gewiss, die Paulskirche sollte wieder demokratischer Versammlungsort werden und somit an die Tradition von 1848 anknüpfen. Oberbürgermeister Walter Kolb trieb den Bau mit Priorität voran, damit er zum 100. Jubiläum der Versammlung fertig würde, und handelte sich deswegen massive Kritik ein. Die zerstörte Stadt habe schließlich andere Sorgen. »Wenn die Kirche dann fertig ist, ziehe ich mit meinem Sohn in die Sakristei«, unkte eine ausgebombte Frau.

Erinnerung der Zukunft, woher die deutsche Nachkriegsdemokratie kommt

Aber der Neubau sollte nun mal den Augenblick festhalten und somit in Zukunft daran erinnern, woher die noch entstehende deutsche Nachkriegsdemokratie denn kommt. Rudolf Schwarz, Leiter des Architektenteams, stand unter dem tiefen Eindruck der Ruine: »Die große Ruine war weitaus herrlicher als das frühere Bauwerk, ein riesiges Rund aus nackten, ausgeglühten Steinen von einer beinahe römischen Gewaltsamkeit.« Diese Raumerfahrung wollte Schwarz mithilfe der kahlen Rotunde rekonstruieren und somit auch versuchen, die Erfahrung des Zivilisationszusammenbruchs zu konservieren.

Somit erinnerte die Paulskirche von 1948 sowohl an das demokratische Erbe als auch an die Apokalypse des Zweiten Weltkriegs und der Naziherrschaft. Eigentlich ein städtebaulicher Geniestreich. Doch die Kritiker fanden daran dennoch reichlich auszusetzen. Münkler beanstandet, dass man für die Gedenkstätte Paulskirche einen »Beipackzettel« brauche, um die Verbindung zwischen dem kargen, schlicht gehaltenen Raum und dem Heroismus der demokratischen Kämpfer des Vormärz herzustellen. (…)

In die Architekturdebatte um Revision und Rekonstruktion der Paulskirche mischte Steinmeier sich nicht ein, auch nicht, als er vor verbleichenden Fahnen und grauem Putz am 18. Mai 2023 zu seiner Rede anhob. Allerdings gab er sich auch keine große Mühe, auf die Wiedereröffnung der Paulskirche 1948 Bezug zu nehmen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Jahr 1848.

»Beipackzettel« für die Gedenkstätte Paulskirche

Steinmeier redete von Bürgermut und Revolution. Er lobte die Inklusivität der Abgeordneten damals, die sich, ganz zeitgemäß, gegen soziale Ungleichheit und etwa für die Gleichstellung der deutschen Juden einsetzten. Und er erinnerte daran, dass 1848 nicht nur ein deutsches, sondern vor allem auch ein europäisches Datum gewesen sei. Erst am Ende zitiert er den Abgeordneten Georg Friedrich Kolb aus der Pfalz mit den Worten: »Wie viele neue Anstrengungen, Opfer und Leiden wird es das deutsche Volk noch kosten, bis es jenes hohe Ziel erringt, das doch endlich wieder ins Auge gefasst werden wird: im Innern frei und glücklich; nach außen nicht bloß gefürchtet, sondern ein Hort der nationalen Verbrüderung zu sein!«

»Ja, der Paulskirchen-Abgeordnete Kolb hatte recht«, schließt Steinmeier. »Die Geschichte unserer Demokratie ist keine gradlinige Erfolgsgeschichte. Ihre Schattenseiten verdrängen wir nicht und dürfen es nicht tun. Aber wir erinnern uns auch an gute Zeiten und mutige Vorbilder; heute an die Revolutionäre von 1848 und die Abgeordneten der ersten deutschen Nationalversammlung.«

Der historiografische Coup der Rede fiel in jenem Frühling des Jahres 2023 kaum jemandem auf. Steinmeier hatte die deutsche Geschichte lässig als eine lineare Entwicklung hin zu Freiheitlichkeit und Demokratie gezeichnet und sie dabei in eine gesamteuropäische Progression eingeordnet. Das Dritte Reich war ein Unfall, ein Ausrutscher, aber die Scharte ist wieder ausgewetzt.

Steinmeier zeichnete eine lineare Entwicklung hin zu Freiheitlichkeit und Demokratie.

Frankfurt wurde im Frühjahr 2023 erneut ins Zentrum jener Geschichtsschreibung gerückt. Begleitend zum Jubiläum gab die Frankfurter Historische Kommission eine zweibändige Aufsatzsammlung zur Frankfurter Geschichte heraus, welche die liberale Tradition der Stadt stark zu machen sucht. Da wird der freie Geist der freien Reichsstadt im Mittelalter gepriesen sowie die vermeintlich frühe Integration des jüdischen Bürgertums. Ein Narrativ, das einer nur etwas genaueren Betrachtung kaum standhält.

Man muss von der Paulskirche aus nur an den Main hinunter und ein kleines Stück am Fluss entlang zum alten Rothschild-Palais spazieren, um ein komplizierteres Bild des Verhältnisses der Stadt zu ihren jüdischen Bürgern zu erhalten. Obwohl Juden die Stadt Frankfurt prägten wie keine andere deutsche Stadt, das wird in der Dauerausstellung des im Palais beheimateten Jüdischen Museums deutlich, war ihr Kampf um Gleichstellung langwierig und steinig.

Hoffnung auf bürgerliche Gleichstellung

So löste sich das jüdische Ghetto im Grunde nur zufällig auf. Nachdem die alte Judengasse 1796 durch napoleonischen Beschuss stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, ließ sich die Ghettoisierung der Frankfurter Bürger aus rein pragmatischen Gründen nicht mehr aufrechterhalten. So konnte nicht zuletzt Baron Rothschild seine Villa am Main bauen. Die Hoffnung auf bürgerliche Gleichstellung unter französischer Herrschaft scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand des Frankfurter Bürgertums. 1824 erhielt man dann den Status der »israelitischen Bürger«. Damit die Gemeinde nicht allzu schnell anwuchs, erlaubte man nur 15 Eheschließungen pro Jahr.

Die volle bürgerliche Gleichstellung kam erst im Jahr 1864. Der enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfolg der Frankfurter Juden, in Person der Familien Rothschild und Speyer etwa oder des Essayisten und radikaldemokratischen Aktivisten Ludwig Börne, fand eher trotz des Widerstands des Frankfurter Bürgertums als durch dessen Wohlwollen und Billigung statt.

Das Narrativ des Nationalsozialismus als Betriebsunfall einer ansonsten gradlinig der Freiheit und Gleichheit entgegen schreitenden Gesellschaft, das in Frankfurt und in unserer Familie gepflegt wurde, erhält von diesem Blickwinkel aus gesehen massive Risse.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Sebastian Moll: »Das Würfelhaus. Mein Vater und die Architektur der Verdrängung«. Insel, Berlin 2024, 207 S., 24 €

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