Großprojekt

Gedächtnisorte, Denkfiguren

Es war reiner Zufall, dass ausgerechnet an Schawuot, wenn die Juden den Empfang der Zehn Gebote feiern, in Leipzig der erste Band der neuen Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK) der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Herausgeber Dan Diner konnte sich bei der Präsentation einen Hinweis auf die Duplizität dennoch nicht verkneifen.

Der Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur will mit dem auf sieben Bände angelegten Referenzwerk, das im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften entsteht, einen neuen Zugang nicht nur zur jüdischen Geschichte erschließen, sondern auch zum Verständnis der Moderne allgemein. Für die EJGK hat Diner deshalb einen Ansatz gewählt, der sich von dem anderer jüdischer Enzyklopädien unterscheidet.

Zäsuren Das betrifft zunächst den Zeitraum: Den historischen Rahmen der EJGK bilden die Jahre von circa 1750 bis 1950, »die Epoche zwischen Emanzipation und Katastrophe«. Zentral ist diese Spanne für Diner, weil sie von zwei historischen Zäsuren markiert wird: Die rechtliche Gleichstellung der Juden in Europa im Gefolge der Französischen Revolution bedeutete das Versprechen an sie, künftig nicht mehr als von der Mehrheitsgesellschaft abgesondertes Kollektiv zu gelten. Eindeutig und endgültig dementiert wurde dieses Versprechen durch die Schoa. Die jüdische Erfahrung zwischen diesen beiden Polen ist der eigentliche Gegenstand der Enzyklopädie.

Dieses Generalthema wird dem Nutzer nicht durch eine klassische lexikalische Faktografie erschlossen. So sucht man vergebens nach Personeneinträgen. Stattdessen arbeitet die Enzyklopädie mit dem Konzept des »Erinnerungsortes«.

Den Schriftsteller Joseph Roth und sein Werk etwa findet man unter dem Eintrag »Brody«, Roths Geburtsort. Beim Stichwort »Babi Jar« geht es nicht allein um die Schlucht nahe Kiew, in der die Deutschen 1941 mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder erschossen; vor allem wird hier die poetische Verarbeitung des Verbrechens durch den sowjetischen Dichter Jewgeni Jewtuschenko behandelt und – daraus wiederum abgeleitet – der ambivalente Umgang der sowjetischen Erinnerungspolitik mit dem Massenmord an den Juden.

Vorwissen Gershom Scholem ist unter dem Eintrag »Kabbala« zu finden, Hannah Arendt bei »Urteilskraft«, und Gustav Mahler wird im Eintrag »Auferstehung« präsentiert. Der »Antisemitismus« fehlt, wie andere Ismen – für Diner obsolete Begriffe des 19. Jahrhunderts. Erklärt wird der moderne Judenhass unter dem Rubrum »Verschwörung«, der Essenz des Antisemitismus, wie der Herausgeber meint.

»Gedächtnisgeschichte« nennt Diner diesen methodischen Ansatz, spricht von »Denkfiguren statt Begriffen«. Seine Enzyklopädie verlangt Vorwissen. »Wir erwarten, dass die Nutzer Ahnung haben«, sagt er. Ein Werk allein für Spezialisten ist die EJGK dennoch nicht. So komplex der geschichtstheoretische Ansatz Diners sich in der Einführung präsentiert, so verständlich, ja ästhetisch lesen sich die einzelnen Einträge. Das Konzept der »Gedächtnisorte« und »Denkfiguren« führt zu einer gelegentlich fast belletristisch anmutenden assoziativen Lektüre.

Die Knochenarbeit, die in der Enzyklopädie steckt, merkt man ihr nicht an. Alle sechs Monate in Folge wird ab sofort ein neuer Band herauskommen. Im März 2014 soll mit dem Registerband das Projekt abgeschlossen sein. Dan Diner sieht dann für das eigentlich wissenschaftlichen Zwecken gewidmete und entsprechend teure Referenzwerk eine zusätzliche Zielgruppe: Die sieben Bände der EJGK, meint der Historiker, seien ein ideales Geschenk zur Bar- oder Batmizwa.

Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Sieben Bände inkl. Registerband. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Dan Diner. J. B. Metzler, Stuttgart 2011, ca. 4.200 S., 360 s/w Abb., 42 Karten, 1.399, 65 €

Interview

»Es findet ein Genozid statt« – »Israel muss sich wehren«

Henryk M. Broder und Hamed Abdel-Samad über ihre langjährige Freundschaft, was sie verbindet – und was sie nach dem 7. Oktober 2023 trennt

von Philipp Peyman Engel  08.06.2025 Aktualisiert

TV-Tipp

Das Schweigen hinter dem Schweinderl

»Robert Lembke - Wer bin ich« ist ein kluger Film über Verdrängung, Volksbildung und das Schweigen einer TV-Legende über die eigene Vergangenheit. Nur Günther Jauch stört ein wenig

von Steffen Grimberg  08.06.2025

Rheinland-Pfalz

»Aus Beutebeständen« - NS-Raubgut in rheinland-pfälzischen Museen

Viele kleine Museen in Rheinland-Pfalz haben bisher nicht danach geforscht, ob NS-Raubgut in ihrem Besitz ist. In den Sammlungen von vier dieser mehr als 400 Museen sah eine Kunsthistorikerin nun genauer nach

von Norbert Demuth  06.06.2025

Medien

Deutschlands Oberlehrer

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? In diesen Tagen scheint die Diffamierung Israels oberste Bürgerpflicht zu sein. Ein Kommentar

von Michael Thaidigsmann  06.06.2025 Aktualisiert

Berlin

Dokumentarfilm »Don’t Call It Heimweh« über Margot Friedländer

Die Dokumentation von Regisseur Thomas Halaczinsky zeigt Friedländers erste Reise aus New York nach Berlin im Jahre 2003. Es war ihre erste Fahrt in die Heimatstadt nach 60 Jahren

 05.06.2025

Bildung

Mehr als nur zwei Stunden Reli

Jüdischer Religionsunterricht muss attraktiver werden und auch Kinder erreichen, die keine jüdische Schule besuchen. Was kann konkret getan werden?

von Uri R. Kaufmann  05.06.2025

Wissenschaft

Wie die Jerusalemer Erklärung Antisemitismus verharmlost

Kritiker der IHRA-Antisemitismusdefinition behaupten gerne, die konkurrierende Jerusalemer Erklärung sei klarer und kohärenter. Doch das Gegenteil ist der Fall

von Ingo Elbe, Sven Ellmers  05.06.2025

Dresden

»Tiefgang mit Witz«: Erste Lesung des Dresdner Stadtschreibers Alexander Estis

Der jüdische Autor schreibe heiter, ironisch, grotesk und überrasche mit originellen Beobachtungen, so die Stadtverwaltung

 04.06.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Tabellenfragen: Was hat die Jewro mit der Bundesliga gemeinsam?

von Katrin Richter  04.06.2025