Erfahrungsbericht

Frag den Juden

Diese Vitrine ist es also, die weltweit für Furore sorgt. Wer momentan bei Suchmaschinen die Begriffe »Jude« und »Berlin« eingibt, stößt dort nicht auf die hoffnungslos zerstrittene Jüdische Gemeinde, sondern auf das Jüdische Museum, das für seine Schau Die ganze Wahrheit ... Was Sie schon immer über Juden wissen wollten täglich einen Juden als lebendes Exponat ausstellt. Und weil Dialog als interkulturelles Nonplusultra gilt, dürfen die Besucher den jüdischen Mitbürger auch ansprechen, ihm Fragen stellen und sich davon überzeugen, dass Juden eben doch ganz normale Menschen sind.

lautsprecher An diesem Donnerstagnachmittag sitze ich in der Vitrine und lasse mich beschauen. Ich bin Vater, ich bin Journalist, ich bin Berliner. Bin ich auch ein typischer Jude? Meine Oma sagt: »Was macht mich zu einer Jüdin? Keine Ahnung, meine Eltern waren Juden.« Doch jeder will der bessere Jude sein. Die orthodoxe Gemeinde meines Onkels schaut herablassend auf meine Synagoge, weil dort eine Orgel zum Schabbes spielt. Ich selbst wiederum finde mich jüdischer als die Mitglieder einer egalitären US-Gemeinde, deren Rabbiner (m/f) mit Gitarre den Schabbat begeht. Und das, obwohl ich leidenschaftlich gerne Scampi und Chili-Cheese-Fries esse und meine Mesusot immer noch nicht aufgehängt habe.

Mit mir sitzt mein Sohn in der Vitrine. Er ist acht. Vorher habe ich mir mit ihm die Ausstellung angeschaut. Aus Einträgen der Gästebücher des Museums und Online-Kommentaren der über sieben Millionen Besucher wurden etwa 30 Fragen herausgesucht, die mittels magentafarbener Schaukästen beantwortet werden sollen. Zum Beispiel: »Darf man Jude sagen?« Mein Sohn versteht die Frage nicht. Ich versuche, ihm die geschichtlichen Hintergründe zu erklären, doch seine Aufmerksamkeit liegt bereits woanders.

Die dazugehörige Box bietet ein Mikrofon, in das man das Wort »Jude« hineinsprechen kann, woraufhin das Aufgenommene über einen Lautsprecher wiedergegeben wird. Meinem Sohn gefällt das. Er drückt den Aufnahmeknopf und sagt »Hallo«. Die Antwort des Kastens: »Hallo«. »Nein«, korrigiere ich ihn: »›Jude‹ sollst du sagen!« Er sagt »Jude«. Die Antwort des Kastens: »Jude«. Aha. Dann beginnt er, mit dem Knopf herumzuspielen, und wegen eines technischen Defekts donnert es aus dem Kasten in ohrenbetäubender Lautstärke. Ich lächle betreten und ziehe den Jungen von dem Kasten weg. Nein, das darf man nicht, auch nicht als Jude.

vorbelastet Dabei ist mein Sohn halachisch gesehen kein Jude. Von mir wird er jüdisch erzogen, von seiner nichtjüdischen Mutter traditionell atheistisch. Wahrscheinlich dürfte er gar nicht mit in die Vitrine. Vaterjuden sind in der Ausstellung kein Thema, wie auch in den deutschen Gemeinden. Mein Sohn ist also ein lebendiges Tabu.

Ich dagegen bin für die Judenvitrine qualifiziert, obwohl mich keiner gefragt hat, ob ich ein wahrer Sohn Israels bin. Mein Name hat dem Museum als Authentizitätsnachweis anscheinend gereicht. Dem Publikum sowieso. »Ich bin ja auch vorbelastet«, merkt ein Herr in der zweiten Reihe aus dem Nichts an. Die Frau neben ihm, vermutlich seine Gattin, schaut ihn fragend an und zischt ihm ein »Was meinst du denn damit?« entgegen. Und weg sind die beiden in den Nachbarraum zu dem Kasten »Kann man einen Schlussstrich unter den Holocaust ziehen?«.

mazzen Eine Besucherin will wissen, ob man sich als Jude besonders fühle und schaut mich herausfordernd an. Ein schnoddriges »Nee« kommt in mir hoch, bleibt mir aber im Hals stecken. Ich selbst fühle mich nicht besonders außergewöhnlich. Doch meine Antwort fällt salomonisch weise aus: Ich fühle mich durch meine Umwelt zu etwas Besonderem gemacht, sage ich und erzähle: Als ich in Wien wohnte und zu Erew Pessach merkte, dass ich keine Mazzen hatte, musste ich durch die halbe Stadt fahren, um einen Frommen in seinem orthodoxen Laden zu bitten, mir noch einen Karton zu verkaufen. Er schenkte ihn mir, wegen Pessach. Lieber wäre mir der Einkauf beim Discounter um die Ecke gewesen. Doch da gab es keine Mazzen. In Berlin wäre es nicht anders gewesen. Der Aufwand zu Pessach lohnt sich für die paar Juden nicht. Wir sind Exoten.

Noch. Vielleicht werden ja in den kommenden 50 Jahren immer mehr Juden in Deutschland leben und unsere Traditionen irgendwann ein Teil der Alltagskultur werden. So wie es hier einmal war und in Amerika ist. Statt »Frohe Weihnachten« zu wünschen, sendet man dort neutrale Feiertagsgrüße und schlägt so mehrere ethnisch-kulturell-religiöse Fliegen mit einer Klappe. Witze über Juden könnten, wenn es erst einmal bei uns so weit ist, auch abseits von Oliver Polaks dämlichem Bühnen-Alter-Ego erzählt werden. Eine der Ausstellungsboxen verdeutlicht das mit einem amerikanischen Clip: Während andere Heiligabend feiern, tanzen Juden auf den leeren Straßen. Ich bestätige meinem Sohn, dass das so in echt ist. Er macht große Augen. Es gibt die geheimnisvollsten Sachen über Juden zu erfahren.

koscher Das stellen auch zwei junge Frauen fest, die vor der Box stehen. Wir seien die ersten Juden in ihrem Leben, erzählen sie. Außer irgendwo in Amerika, da hätte die eine schon einen gesehen. »Ach wie schön«, antworte ich und bin gespannt, wohin so ein Gesprächsbeginn führen wird. Wir lächeln uns an, keiner sagt etwas. Überhaupt sei das koschere Essen ja ziemlich spannend, durchbricht die eine die Stille, und auch sehr gesund. Ob ich das wüsste?

Ich habe mich nicht sonderlich mit der Kaschrut beschäftigt, weiß aber, wo ich sie im Alltag nicht einhalte. Ich schaue einfach nur höflich, denn jetzt sprudelt es aus der Besucherin heraus. Auf Schwein zu verzichten und Milch und Fleisch getrennt einzunehmen sei ganz besonders gesund, sagt die Frau und lacht dabei, als ob das unter uns Eingeweihten ohnehin klar wäre. Ich lache mit und stelle mir die neue koschere Frühlingsdiät vor, durch die man gesund die perfekte Bikinifigur erreicht. Für trainierte Bodys sind Juden ja weltweit bekannt.

»Vorurteilsbarometer« Plötzlich erscheint der Herr aus der zweiten Reihe wieder. Dieses Mal ohne seine Frau. Er erzählt, dass er einen jüdischen Vater gehabt hätte und ihn das umtreibe. Er flüstert und wirkt hilfesuchend. Ich bin überfordert. Ich rate ihm, der Spur seines inneren Juden nachzugehen, wie auch den anderen, die mit ähnlichen Eröffnungen an diesem Nachmittag auf mich zukommen.

Als ich meinen Dienst in der Box beende, frage ich mich, welche »ganze Wahrheit über Juden« ich denn selbst gern wissen würde. Vielleicht findet ich die Antwort im Raum mit dem »Vorurteilsbarometer«. Dort kann man Chips in Boxen legen, die mit verschiedenen klischeehaften »jüdischen« Eigenschaften beschriftet sind. Ich lege zwei meiner drei Chips in die Box »gutaussehend«. Einer kommt zu »intelligent«. Mein Sohn stimmt einheitlich für »tierlieb«. Juden, erklärt er mir, essen ja nicht jedes Tier, also sind sie tierlieb.

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