Attentat

Fakt und Fiktion in schlüssiger Symbiose

Attentat

Fakt und Fiktion in schlüssiger Symbiose

Christof Weigolds Kriminalroman über den ungeklärten Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in München im Jahr 1970

von Helen Richter  27.10.2024 10:47 Uhr

Es gibt zwei Kapitalverbrechen in der jüngeren Münchner Geschichte, die noch Jahrzehnte später nicht wirklich aufgeklärt sind. Beim dem einen handelt es sich um das Bomben-Attentat vom 26. September 1980 am Haupteingang zum Oktoberfest. Zumindest der rechtsradikale Hintergrund des Attentäters, der bei dem Terroranschlag selbst zu Tode kam, steht fest.

Der andere Fall ist der Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus vom 13. Februar 1970, dem sieben jüdische Senioren, die dort untergebracht waren, zum Opfer fielen.

Drei Tage zuvor war am Münchner Flughafen ein Anschlag auf Passagiere einer EL-AL-Maschine verübt worden

Zunächst recherchierten die Ermittler einerseits in Richtung Rechtsterrorismus, andererseits suchte man nach palästinensischen Attentätern. Denn gerade einmal drei Tage zuvor, am 10. Februar 1970, war am Münchner Flughafen ein Anschlag auf Passagiere einer EL-AL-Maschine nach Tel Aviv verübt worden, mit einem Todesopfer und mehreren, teilweise schwer verletzten Personen. Trotz 100.000 D-Mark Belohnung kamen keine wirklich sachdienlichen Erkenntnisse zusammen, nur der Verdacht, dass es eine linksradikale Münchner Zelle der sogenannten Tupamaros West-Berlin, denen man den missglückten Bombenanschlag vom 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin zuschrieb, gewesen sein könnte.

Der Politologe Wolfgang Kraushaar veröffentlichte dazu 2013 eine wichtige Studie unter dem Titel Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel? München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus. Vier Jahre, nachdem die Bundesanwaltschaft nochmals Nachermittlungen aufgenommen hatte, wurden diese 2017 endgültig eingestellt.

Der Kabarettist Christian Springer griff den Fall 2019 – kurz vor dem 50. Jahrestag – erneut auf und stellte einen Videoappell an Täter, Mitwisser und Sympathisanten ins Netz. Er hoffte auf ein schlechtes Gewissen. Vergeblich, obwohl doch jemand noch leben könnte, der etwas über den Brandanschlag auf das Treppenhaus und den Mord an zwei jüdischen Frauen und fünf jüdischen Männern weiß.

Der Münchner Krimiautor Christof Weigold, der historische Stoffe für seine Kriminalromane bevorzugt, entwickelte aus seiner intensiven Recherche zum Brandanschlag vom Freitagabend des 13. Februar 1970, kurz vor 21 Uhr, der bis heute voller Mutmaßungen und jeder Menge ungeklärter Fragen steckt, einen spannenden Romanplot, in dem Fakten und Fiktion eine schlüssige Symbiose eingehen. Es ist der erste Band einer neuen Serie.

Ein Thriller spricht seine Leserschaft an, wenn ein sympathischer Ermittler mit Unwägbarkeiten und Köstlichkeiten des Lebens konfrontiert ist

Der Tod einer betagten Buchhändlerin, die ihr Wissen nicht mehr an den Fallanalytiker Felix Petry weitergeben kann, führt den Polizeimitarbeiter zu einer Suche durch München: bedroht von Neonazis, belogen von einer linken WG, ausgebremst von seinen Vorgesetzten und traumatisiert vom Verlust seiner jüdischen Freundin, die eines Morgens einfach tot neben ihm im Bett lag. Was Petry guttut, ist quer zu denken, was einmal ein schlüssiger Begriff für unkonventionelle Gedankenwege war. Nicht zu vergessen der Seelen- und Magenbalsam, nämlich die gute Küche im Spezialitätenrestaurant, das seine Mutter mit ihrem jüdischen Lebensgefährten betreibt. Ein Thriller spricht seine Leserschaft nämlich umso mehr an, wenn ein sympathischer Ermittler mit Unwägbarkeiten und Köstlichkeiten des Lebens, zusätzlich zu Sex and Crime, konfrontiert ist.

Ganz beiläufig bekommt man übrigens auch noch eine ordentliche Portion deutsch-jüdischer Geschichte mit, missglückter Vergangenheitsbewältigung un­ter Rechten, Linken und denen dazwischen, die sich für aufrechte Demokraten halten. Weigold schockierte, wie er im Nachwort ausführt, »dass ein solch grausames Verbrechen in der Öffentlichkeit weitgehend vergessen ist«. Und auch er hofft: »Es braucht nur einen Menschen, der sein Schweigen bricht.«

Christof Weigold: »Das brennende Gewissen. Petry ermittelt«. Roman. Kampa, Zürich 2024, 377 S., 18,90 €

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025

Los Angeles

Rob und Michele Reiner: Todesursache steht fest

Ihre multiplen Verletzungen seien durch Gewalteinwirkung entstanden, so die Gerichtsmedizin

 18.12.2025

Bad Arolsen

Floriane Azoulay scheidet als Direktorin der Arolsen Archives aus

Die Amtszeit der Direktorin der Arolsen Archives endet im Dezember. Unter Floriane Azoulay sammelte das Archiv Auszeichnungen, sie selbst war alles andere als unumstritten

 18.12.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 18. Dezember bis zum 31. Dezember

 18.12.2025

Interview

»Die Zeit der Exzesse ist vorbei«

In ihrem neuen Buch »Glamour« setzt sich die Berliner Autorin Ute Cohen mit Schönheit und Eleganz auseinander. Dabei spielt auch Magie eine Rolle - und der Mut, sich selbst in einer »Zwischenwelt« inszenieren zu wollen

von Stefan Meetschen  17.12.2025 Aktualisiert

Potsdam

Kontroverse um Anne-Frank-Bild mit Kufiya

Ein Porträt von Anne Frank mit Palästinensertuch in einem Potsdamer Museum entfacht Streit. Während Kritiker darin antisemitische Tendenzen sehen, verteidigt das Museum das Bild. Die Hintergründe

von Monika Wendel  17.12.2025