Dokumentation

»Eine Welt ohne Herta Müllers kompromisslose Literatur ist unvorstellbar«

Josef Joffe (Archivfoto) Foto: picture alliance/dpa

Geehrt wird heute Herta Müller. Aber ich darf mich noch geehrter fühlen, weil ich mich als Laudator wie ein Ein-Mann-Nobelpreiskomitee aufmandeln darf. Es herrscht nur ein kleiner Unterschied. Anders als 2009  in Stockholm fehlt heute das schwedische Königtum. Aber wenn Österreich noch einen Kaiser hätten, wäre der auch hier.

Was sagte die Nobelstiftung zu Herta Müllers literarischer Größe und ihrem schier uferlosen Werk? Drei Dinge darf ich kurz wiederholen.

Erstens: »Ihre Prosa spiegelt eine sprachliche Energie, die uns sofort gefangen nimmt.«

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Zweitens: »Diese entspringt ihrer Weigerung, zu akzeptieren, was ist. Für Herta Müller ist Widerstand Methode. Sie ist verankert in ihrer eigenen Erfahrung. Fast alles, was sie schreibt, handelt vom Leben in der Ceausescu-Diktatur, von Angst und Verrat.«   

Der Laudator lobte drittens den »großen Mut, Unterdrückung und Terror kompromisslos zu widerstehen.« Apropos »kompromisslos«, sagte die Geehrte drei Jahre später ganz knapp: »Tatsachen sind nicht verhandelbar.«

Für all das, so der Ausschuss, gebühre ihr der Nobelpreis.

Eigentlich könnte ich hier schon aufhören, weil schon alles gesagt ist.   Aber ich habe noch acht Minuten und möchte noch etwas beitragen.

Die drei W von Widerstand, Wahrheit und Widerspruch wurzeln in ihrer eigenen Erfahrung. Das trifft auch auf den früheren deutschen Präsidenten Joachim Gauck zu, der den Zwangsstaat der DDR erlebt hat. Beide haben denselben Schluss gezogen: keine Schönfärberei, kein Verständnis, kein Einlenken.

Das unterscheidet die beiden von jenen im Westen, die weder die Nazi- noch die Kommunisten-Diktatur erleiden mussten, die »Dressur der Angst« in Herta Müllers Worten.

Der Mut zum Widerspruch, den die deutschen Wohlmeinenden bei Gauck belächelt haben, spiegelt das erlebte Grauen. Welches? Herta Müller drückt es so aus:

»Gespürt habe ich das schon als Kind… darauf trainiert, dass man, was zu Hause gesprochen wird, nicht außer Haus trägt, wenn Menschen für nichts und wieder nichts in den Lagern verschwanden. Und die Angst war überall. Ich habe das körperlich gespürt.« Weiter: »Der Einzelne hatte in diesem Staat keinen Wert, er war im Gegenteil verdächtig.«

Solche Worte sagen mehr als eine ganze Bibliothek zum Totalitarismus. Was ist dessen Kern?  Herta Müller zitiert einen rumänischen Spruch: »Den gesenkten Kopf trifft kein Schwert.« Solche Haltung »unterfüttert die Gleichgültigkeit«. Oder schlimmer: Das Opfer »ist selber schuld.«  Es wird zum Komplizen.

Das erklärt, wieso in der DDR, in Rumänien, in Nazi-Deutschland die Herrschaft so perfekt war. Unter den Nazis gab es die Blockwarte und Millionen von Parteigenossen, in der DDR ein Heer von IM, »inoffiziellen Mitarbeitern«. So entstand ein hoch ökonomischer Knechtschaftsstaat; Stasi, Securitate und Gestapo konnten sich auf massenhaft willige Helfer verlassen.

Hier, im Westen, in der geschenkten Freiheit, spürt man auch Gleichgültigkeit. Die mag erklären, warum, Zitat, »in Deutschland zu wenig von der Freiheit nach dem Fall der Mauer die Rede ist.«

Risikovermeidung – Stichwort »Russlandversteher«, links wie rechts – erklärt auch den Fall Ukraine, wo bei uns die Unterscheidung verblasst zwischen Freiheitskämpfern und Raubkriegern. Der Tenor der Besänftiger: Soll doch Putin die Ukraine kassieren, dann gibt er Ruhe.  Herta Müller aber kurz und knapp: »Putin kann nicht anders.« So ist es. Imperialisten hören nie auf, wenn ihre Machtgier ungezügelt bleibt.

Die Geehrte hat Recht, wenn sie Vergessen und »ohne uns« anprangert.

Das trifft auch für Nahost zu, wo sie von Joe Biden abwärts Waffenstillstand und Israels Rückzug fordern, obwohl sie wissen, dass Hamas, Hisbollah und Iran die Waffenruhe nur zur Wiederaufrüstung nutzen wollen und die Vernichtung des jüdischen Staates. Hinzu kommt ein Klassiker, die Umkehr von Täter und Opfer. Wie auf dem Schulhof, wo der Lümmel sagt: »Angefangen hat der da, als er zurückschlug.« Israel hat also Schuld.

Das bringt uns zum Antisemitismus im Gewand des Antizionismus.  Herta Müller fragt in der FAZ: »Darf man beim 7. Oktober an die Massaker der Nazis denken?« Denn bei dem Todeskult namens Hamas, geht es um schiere Mordlust – nicht um Gerechtigkeit für die Palästinenser, sondern um die Vernichtung eines Volkes namens Israel. Also die tausendfache Parole: »From the River to the Sea«, also Finis Israel.

Die alten Dämonen sind ein Menschenalter nach der Schoa im neuen Kleid zurück. Und Herta Müller fragt, ob die Studenten von Stockholm bis San Francisco  »schon debil« sind, wenn sie solche Parolen brüllen. Und weiter fragt: Hat ihnen die Freiheit den Kopf verdreht? Wenn etwa Queere, die im Iran den Tod riskieren, gegen das freie Israel demonstrieren. Das sei wie ein »Huhn, das für Kentucky Fried Chicken demonstriert.«

Und noch ein unvergesslicher Satz: »Mir scheint, dass sich der Antisemitismus wie durch ein großes kollektives Fingerschnippen ausgebreitet hat, als wäre die Hamas der Influencer und die Studenten die Follower.« Solche Sätze machen einen Journalisten wie mich neidisch.

Lassen Sie mich mit einem Satz von Paul Celan enden, den Herta Müller zitiert: »Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen; und ich will sie mir auch nicht ohne Israel vorstellen.« Ich darf hinzufügen, was sehr gut in die Nobel-Laudatio gepasst hätte: Ich kann mir unsere heutige Welt nicht ohne die kompromisslose Literatur der Herta Müller vorstellen. Oder wie eine Rezensentin schrieb: »Literatur ist eine Form der Fürsorge, eine Geste der Menschlichkeit.« Davon kann man nicht genug kriegen

Kol hakawod sagt man auf Hebräisch, auf Deutsch: »Alle Ehre.« Das kommt aus dem Herzen, Frau Nobel. Danke an Herta Müller und Danke an Sie, liebe Gäste, fürs Zuhören.

Josef Joffe ist freier Publizist und ehemaliger Herausgeber der Wochenzeitung »Die Zeit«.

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