Redezeit

»Du musst glücklich sein«

Frau Kerr, lassen Sie uns über Ihren Vater, den legendären Theaterkritiker Alfred Kerr, reden. Ich habe den Eindruck, dass es vermutlich nur wenige Personen gibt, über die man sich so viele Anekdoten erzählt wie über ihn.
(lacht) Das ist sicherlich richtig. Mein Vater war ein ungemein origineller und humorvoller Mensch. Er war gewissermaßen der Marcel Reich-Ranicki der Weimarer Republik – sowohl, was seinen Bekanntheitsgrad als auch seine Frechheit betrifft. Aber: Nicht alles, was über ihn geschrieben wird, entspricht auch der Wahrheit.

An was genau denken Sie?
Seinerzeit gab es neben meinem Vater noch einen anderen berühmten jüdischen Theaterkritiker: Siegfried Jacobson. Dieser behauptete allen Ernstes, dass Alfred Kerr sich absichtlich seine Halswirbel verrenkte, um beim Gehen die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mein Vater war zwar immer auf Effekt bedacht, aber das wäre auch aus seiner Sicht des Guten zu viel gewesen.

Haben Sie so etwas wie eine Lieblingsanekdote, deren Wahrheitsgehalt überliefert ist?
Aber ja. Nach dem Krieg ist er noch einmal nach Deutschland zurückgekommen, um über das hiesige Theater zu schreiben. Angekommen in Hamburg, begrüßte man ihn wie einen Star. Die Fotografen rissen sich um ihn, und er musste viele Interviews geben. Das alles wühlte ihn sehr auf. In der Nacht hatte er dann im Hotel einen schlimmen Schlaganfall und lag in seinem Zimmer auf dem Boden. Den Humor hatte er jedoch nicht verloren. Am Abend zuvor hatte er eine Aufführung von »Romeo und Julia« besucht, und als man ihn morgens fand, sagte er: »Das Stück war schlecht, aber so schlecht war es dann doch nicht!«

Kurze Zeit später soll sich Ihr Vater das Leben genommen haben und nicht, wie oft geschrieben wird, an den Folgen des Schlaganfalls gestorben sein.
Ja, er war halbseitig gelähmt und konnte nicht mehr richtig denken. Dass er als Geistesmensch in diesem Zustand nicht leben wollte – dessen war er sich trotz seiner eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit bewusst.

Sie waren 25 Jahre alt, als Ihr Vater starb und wurden später selbst Schriftstellerin. In »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« erzählen Sie die Geschichte Ihrer Flucht aus Deutschland. Was meinen Sie, hätte Ihr Vater als Kritiker das Buch gemocht?
Diese Frage habe ich mir in meinem Leben oft gestellt. Ich weiß es bis heute nicht. Als ich meine Erinnerungen in den 70er-Jahren veröffentlichte und sie zu einem Bestseller wurden, fühlte ich mich jedenfalls schuldig. Ich warf mir vor, am Unglück meiner Eltern Geld zu verdienen.

Wie denken Sie heute darüber?
Die Nazis haben über sechs Millionen Juden getötet, und ausgerechnet unsere Familie hatte das unglaubliche Glück zu überleben. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Man weiß, dass man ein Leben hat, das anderen nicht gegeben wurde. Ich denke, deshalb war es richtig, die Erinnerungen an diese Zeit und ihre Menschen wenigstens literarisch am Leben zu erhalten. Meinem Vater jedenfalls war es nach unserer Flucht nach London sehr wichtig, dieses geschenkte Leben nicht zu verschwenden und trotz allem glücklich zu werden.

Glücklich, nach allem, was Sie erlebt hatten?
Ja, er hat mir und meinem Bruder immer wieder befohlen, das Leben anzunehmen. Du musst glücklich sein, schrieb er auch in einem seiner letzten Briefe.

Ist es Ihnen gelungen?
Ich würde sagen, dass die hellen Momente auch dank meiner großartigen Eltern bei Weitem überwogen haben. Und doch: Es gibt dieses Zitat von Kafka, auf das sich nach dem Krieg manche Menschen beriefen – »Im Frieden kommst du nicht vorwärts, im Krieg verblutest du.« Zuweilen, manchmal mehr und manchmal weniger, schien mir auch diese Sicht ganz treffend zu sein.


Judith Kerr wurde als Tochter des Theaterkritikers und Schriftstellers Alfred Kerr am 14. Juni 1923 in Berlin geboren. Kurz vor der Machtübernahme der Nazis flüchtete sie mit ihren Eltern und dem Bruder nach Zürich, Paris und London. Dort absolvierte sie ihre Ausbildung zur Zeichnerin und Grafikerin. Sie heiratete den Drehbuchautor Thomas Nigel Kneale, der sie zum Schreiben über ihre Exiljahre anregte. Die Bücher (zum Beispiel »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«) wurden zu Bestsellern und sind in der Bundesrepublik fester Bestandteil der Schullektüre.

Aufgegabelt

Plätzchen mit Halva

Rezepte und Leckeres

 05.12.2025

Kulturkolumne

Bestseller sind Zeitverschwendung

Meine Lektüre-Empfehlung: Lesen Sie lieber Thomas Mann als Florian Illies!

von Ayala Goldmann  05.12.2025

TV-Tipp

»Eigentlich besitzen sie eine Katzenfarm« - Arte-Doku blickt zurück auf das Filmschaffen von Joel und Ethan Coen

Die Coen-Brüder haben das US-Kino geprägt und mit vielen Stars zusammengearbeitet. Eine Dokumentation versucht nun, das Geheimnis ihres Erfolges zu entschlüsseln - und stößt vor allem auf interessante Frauen

von Manfred Riepe  05.12.2025

Köln

Andrea Kiewel fürchtete in Israel um ihr Leben

Während des Krieges zwischen dem Iran und Israel saß Andrea Kiewel in Tel Aviv fest und verpasste ihr 25. Jubiläum beim »ZDF-Fernsehgarten«. Nun sprach sie darüber, wie sie diese Zeit erlebte

 05.12.2025

Genf

Entscheidung gefällt: Israel bleibt im Eurovision Song Contest

Eine Mehrheit der 56 Mitgliedsländer in der European Broadcasting Union stellte sich am Donnerstag gegen den Ausschluss Israels. Nun wollen Länder wie Irland, Spanien und die Niederlande den Musikwettbewerb boykottieren

von Michael Thaidigsmann  04.12.2025

Medien

»Die Kritik trifft mich, entbehrt aber jeder Grundlage«

Sophie von der Tann wird heute mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis geehrt. Bislang schwieg sie zur scharfen Kritik an ihrer Arbeit. Doch jetzt antwortete die ARD-Journalistin ihren Kritikern

 04.12.2025

Antisemitismus

Schlechtes Zeugnis für deutsche Schulen

Rapper Ben Salomo schreibt über seine Erfahrungen mit judenfeindlichen Einstellungen im Bildungsbereich

von Eva M. Grünewald  04.12.2025

Literatur

Königin Esther beim Mossad

John Irvings neuer Roman dreht sich um eine Jüdin mit komplexer Geschichte

von Alexander Kluy  04.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter, Imanuel Marcus  04.12.2025