»Jeder Tag wie heute«

Die Harfe ist ein Instrument der Rache

Nicht hektisch, aber doch zügig: Der neue Roman von Ron Segal Foto: wallstein

»Jeder Tag wie heute«

Die Harfe ist ein Instrument der Rache

Ron Segal gelingt ein ebenso humor- wie respektvoller Roman über die Schoa

von Harald Loch  20.10.2014 18:47 Uhr

Sprechen wir zunächst vom Mut des Autors Ron Segal. Denn es gehört immer noch Mut dazu, den Topos Auschwitz nicht dokumentarisch oder biografisch, sondern fiktional in Literatur zu verwandeln. Segal. Jahrgang 1980, hat vor vier Jahren seinen ersten Roman verfasst, der jetzt in der deutschen Übersetzung von Ruth Achlama unter dem Titel Jeder Tag wie heute vorliegt.

Der Mut des Autors bei der Wahl des Sujets für seinen ersten Roman wird von der literarischen Umsetzung noch in den Schatten gestellt. Adam Schumacher, der 90-jährige Held des Romans, ist Überlebender der Schoa und erfolgreicher Schriftsteller. Zeitlebens wollte er nie wieder nach Deutschland fahren und suchte bei seinen Reisen stets Flugrouten, die nicht über das Land flogen, dessen Machthaber ihm einst das Leben nehmen wollten, seine Angehörigen und Millionen andere ermordet haben. Doch jetzt ist Schumacher nach München gekommen, um in einer angesehenen Literaturzeitschrift seine Erinnerungen in Fortsetzungen zu veröffentlichen.

saite 20 Jahre zuvor ereignet sich ein Unglück, das Segal wie die Karikatur eines Krimis aufzieht. Adams Frau Bella wird zu Hause von einem dicken Buch erschlagen, einem Erfolgsroman Adams, der zur Zeit des Unglücks in Yad Vashem aus eben diesem Buch im Rahmen einer Konferenz »Die Schoa im Spiegel der modernen Literatur« liest. In der Jacketttasche Adams finden die Ermittler die C-Saite einer Harfe. Bella war eine erfolgreiche Harfensolistin. Dem ernsten Thema eine eher unterhaltsame Spannungsparodie aufzuhalsen, ist schon kühn.

Die Saite und die Harfe spielen im Lauf des Romans eine weitere, das Plausibilitätsdenken des Lesers auf eine harte Probe stellende Rolle: Die Harfe wurde Bella im KZ von einem Mithäftling gebaut, sie avancierte damit zur »Geschützten«, weil geschätzten Solistin, wurde ins hungernde Glied zurückgestoßen, als sie ihre Schwester schüt- zen wollte und rächte sich an einem ihrer Peiniger, indem sie ihn mit der C-Saite erdrosselte. Dann lässt der Autor Bella am Ende des Todesmarschs aus dem KZ völlig entkräftet und halb erfroren von einem katholischen Mönch retten: Es ist Woytila, der spätere Papst. Segal hat dieses Detail der wahren Geschichte der Edith Zierer entliehen, die von Arie Kizel aufgeschrieben wurde. Die eine Wirklichkeit fügt sich in eine andere Fiktion ein – der kühne Versuch, Authentizität herzustellen.

mutproben Die nächsten Mutproben lädt sich Segal auf, indem er Adam in München zusammenbrechen, einen Schlaganfall überleben und einen fortschreitenden Morbus Alzheimer erleiden lässt. In diesem Zusammenhang kommt eine in der Schweiz praktizierte Form der Sterbehilfe ins Gespräch – große Themen über große Themen, als ob das Kernthema nicht ausreichte.

Doch all das gelingt dem Autor. Der kurze Roman bricht nicht auseinander. Alles hat seinen – literarischen – Sinn, jede Zeitverschachtelung, jede Rückblende, jeder Themenwechsel. Die Schnittfolge der Szenen ist nicht hektisch, aber doch so zügig, dass das ganze Werk auf 140 Seiten Platz findet. Segal sprüht vor Erfindungslust und Erzählfreude. Dabei verliert er den Ernst des Themas und die Würde der Toten nie aus dem Auge. In den Dialogen steckt ebenso viel Humor wie Weisheit, die wohl darin gipfelt, dass es keine endgültigen Aussagen zur Geschichte und zum Verhältnis zwischen Juden und Deutschen geben kann.

Die Krönung dieses virtuosen Kunstwerks ist die den ganzen Roman durchziehende Liebesgeschichte zwischen Adam und Bella. Sie haben sich als Kinder während der Schoa kennengelernt. Im hohen Alter erinnert sich Adam an die »Liebesworte, die mir Bella während all unserer Jahre ins Ohr träufelte: Gewiss will ich, gewiss bin ich froh, gewiss liebe ich, gewiss komme ich, gewiss verspäte ich mich, gewiss bin ich traurig, gewiss bin ich glücklich, gewiss bin ich bei dir, gewiss bin ich dein, gewiss bleibe ich, gewiss erinnere ich mich, hihi.«

Ron Segal: »Jeder Tag wie heute«. Deutsch von Ruth Achlama. Wallstein, Göttingen 2014, 140 S.,17,90 €

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  30.04.2025

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025