Yevgeniy Breyger

Die Geschichte von Mina und Schura

Ausgezeichnet: Yevgeniy Breyger Foto: Gabriela Cuzepan

Yevgeniy Breyger

Die Geschichte von Mina und Schura

Der in Charkiw geborene Dichter hat seinen dritten Lyrikband vorgelegt – ein starkes und redliches Buch

von Ayala Goldmann  27.04.2023 14:11 Uhr

»Charkiw soll evakuiert werden« – mit einem Halbsatz beginnt der neue Gedichtband Frieden ohne Krieg von Yevgeniy Breyger. Es geht nicht um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Jedenfalls nicht sofort. Mit »weil die Deutschen kommen« fährt der Dichter in seinem ersten Kapitel fort, das die Familiengeschichte umreißt – angefangen mit der Rettung seiner Urgroßmutter Mina und deren Tochter Schura, die nach dem Sieg der Roten Armee zur Welt kam.

Doch die Dichtung von Yevgeniy Breyger, geboren 1989 in Charkiw, der seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland lebt (»dank deutschem pass usw. seh ich mich auch/als deutscher autor, ihr könnt draufhauen«), ist keine plakative »Schoa-Lyrik«. Sie ist genau das Gegenteil davon.

MAGBEBURG Breyger, der mit seinen Eltern als jüdischer »Kontingentflüchtling« aus der Ukraine ausreiste und mehrere Jahre in Magdeburg wohnte – heute lebt er in Frankfurt am Main –, hat Minas Geschichte schon einmal erzählt. In seinem zweiten Gedichtband Gestohlene Luft (der Titel ist eine Anleihe bei Ossip Mandelstam) von 2020 heißt es im Kapitel »Königreiche«: »In der Nacht, als das Dorf sich bewaffnet, erfährt sie / ihre Bestimmung, die großen Felsen zu beschießen. / Am Flusslauf warten sie wie Augen. Entschieden, / ruhig kriecht Stein über Stein – Von ihr weg?«

Diesen Gedichten, für die Breyger 2019 mit dem Leonce-und-Lena-Preis in Darmstadt ausgezeichnet wurde, ist das dramatische Thema nicht auf Anhieb zu entnehmen, es verbirgt sich hinter den Metaphern. Im Zentrum steht Flucht: Die schwangere Mina konnte dem Massenmord an ukrainischen Juden in der Schlucht Babyn Jar im Sommer 1941 entkommen.

Minas Tochter Schura hat Breyger schon davon erzählt, als er fünf Jahre alt war. In Frieden ohne Krieg nimmt der Dichter den familiären Faden wieder auf, erzählt aber direkter und unverblümter.

STIL Er halte nicht viel davon, »dass ein Autor oder eine Autorin einen bestimmten Stil vertreten müssen. Sondern die einzelnen Texte müssen so gut wie möglich passen zu dem, was sie beschreiben«, sagt der Lyriker, ein freundlicher und bedachter Mensch, am Telefon. Er schildert in Frieden ohne Krieg auch sarkastisch den Alltag von Zuwanderern, deren Diplome nicht anerkannt werden. Ein altbekanntes Problem: Der Vater des Autors war in der Ukraine Maschinenbauingenieur, die Mutter Programmiererin. »In Magdeburg haben sie in der Gemeinde gearbeitet, mein Vater als Buchbinder in der Bibliothek und Mutter als Köchin.«

Einiges im neuen Buch ist umgangssprachlich gehalten, anderes poetisch, alles mit sehr bewusstem Einsatz von Satz- und Auslassungszeichen. Das Apostroph in G’tt, G’ott oder das ausgeschriebene Wort drücken die große jüdische Ambivalenz des 20. (und nun auch des 21.) Jahrhunderts aus. Breyger formuliert sie im Gespräch in einer Frage: »Wie kann ich glauben im Angesicht der Ereignisse, die ich beschreibe?«

Ursprünglich hatte der Dichter sein Buch im Februar 2022 beim Verlag abgegeben. Zehn Tage später begann der russische Angriff auf die Ukraine. Breyger verwarf das Buch und verfasste es bis Oktober völlig neu.
Er schildert darin auch die Erfahrungen von Minas Enkel, der jetzt nach Deutschland geflohen ist, und verbindet sie mit dem Trauma von damals: »Es ging mir überhaupt nicht darum, das eine mit dem anderen zu vergleichen. Mir ging es nur darum zu gucken, was löst es aus, wenn dieser Schrecken nicht aufhört.« Oder wie es im Vorspann heißt: »es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn / zieht aber andre und ich denk mich nur / denk hin«.

Yevgeniy Breyger: »Frieden ohne Krieg. Gedichte«. kookbooks Verlag für Lyrik, Essayistik und hybrides Erzählen, Berlin 2023, 80 S., 24 €

Der Autor liest bei der Leipziger Buchmesse unter anderem am Samstag, den 29. April, um 22.30 Uhr beim der Spätausgabe des Forums »Die Unabhängigen« gemeinsam mit Jo Frank und Tomer Dotan-Dreyfus.

Essay

Übermenschlich allzumenschlich

Künstliche Intelligenz kann Großartiges leisten. Doch nicht zuletzt die antisemitischen Ausfälle von Elon Musks Modell »Grok« zeigen: Sie ist nicht per se besser als ihre Schöpfer. Ein alter jüdischer Mythos wirft Licht auf dieses Dilemma

von Joshua Schultheis  27.08.2025

Archäologie

Vorform der Landwirtschaft: Steinsicheln für die Getreideernte

Funde aus einer Höhle in Zentralasien stellen Annahmen zur Entstehung der Landwirtschaft infrage. Offenbar liegen deren Ursprünge nicht nur in der Region Vorderasien, die auch das heutige Israel umfasst

von Walter Willems  26.08.2025

Digital

Initiative von Heidelberger Hochschule: Neuer Podcast zum Judentum

»Jüdische Studien Heute« als Podcast: Das neue Angebot der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg will alle zwei Wochen Forschungsthemen aufgreifen und Einblicke in die jüdische Lebenswelt bieten

von Norbert Demuth  26.08.2025

Zahl der Woche

1902

Fun Facts und Wissenswertes

 26.08.2025

TV-Tipp

»Barbie« als TV-Premiere bei RTL: Komödie um die legendäre Puppe

Im ersten Realfilm der 1959 von Ruth Handler erfundenen Puppe ist Barbieland eine vor Künstlichkeit nur so strotzende Fantasie

von Michael Kienzl  26.08.2025

Nominierungen

Grimme Online Award: Nahost-Konflikt und deutsche Geschichte im Fokus

In den vier Kategorien kann die Jury des Grimme Online Awards aus den 25 Nominierten bis zu acht Preisträger auswählen

 26.08.2025

Berlin

Götz Aly: Kaum Parallelen zwischen 1933 und heute

Wie konnten die Deutschen den Nazis verfallen und beispiellose Verbrechen begehen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Historiker in seinem neuen Buch. Erkennt er Parallelen zu heute?

von Christoph Driessen  26.08.2025

Oberammergau

»Judenfreund«: Regisseur Stückl beklagt Anfeindungen

Christian Stückl leitet die berühmten Passionsspiele in Oberbayern. Lange wurde er dafür gewürdigt, das Werk von judenfeindlichen Passagen befreit zu haben. Nun dreht sich der Wind

 25.08.2025

Kritik

Ukraine verurteilt Auftritt Woody Allens bei Moskauer Filmwoche

US-Filmregisseur Woody Allen lässt sich per Video beim Moskauer Filmfestival zuschalten. In der von Russland angegriffenen Ukraine sieht man den Auftritt alles andere als gern - und reagiert prompt

 25.08.2025