Leo Perutz, geboren 1882 in Prag und verstorben 1957 in Bad Ischl, ist noch heute der große Unbekannte der deutschsprachigen Literatur. Bereits zu Lebzeiten erreichten seine historischen Romane nie die Popularität jener Lion Feuchtwangers, und die Subtilität seiner Figurenzeichnung blieb selbst Stefan-Zweig-Lesern eher unbekannt.
In seinem Essay über Leo Perutz, erschienen in der von Volker Weidermann bei Kiepenheuer & Witsch herausgegebenen Reihe »Bücher meines Lebens«, in der Gegenwartsautoren von ihren literarischen Favoriten erzählen, schreibt Daniel Kehlmann: »Und auch wenn es in Perutzʼ Romanen oft um Wirklichkeitsbrüche und Träume geht, so wird die Logik des Alltags in ihnen doch nie so weit in jene des Traums aufgelöst wie in den Fiktionen von Franz Kafka, der nur ein Jahr nach Perutz in derselben Stadt geboren wurde und eine Zeit lang für dieselbe Versicherungsgesellschaft arbeitete.«
Doch zittert in Perutzʼ Texten – und Daniel Kehlmann arbeitet das subtil und gleichzeitig mit der enthusiastischen Diebesfreude des nachgeborenen Schriftstellerkollegen heraus – ebenfalls eine metaphysische Unruhe, kulminierend in der Frage, ob es so etwas wie Schicksal gäbe.
Vielleicht, aber interessanterweise geht Kehlmann dieser Spur nicht nach, ist Perutz, der 1938 im Alter von 60 Jahren ins damalige Palästina emigrieren musste und dort von der Unterstützung seiner wohlhabenderen Brüder abhängig war, trotz seines umfangreichen und faszinierenden Werkes auch deshalb vergessen, weil im 20. Jahrhundert die alte gediegene Schicksalsfrage von Hitler und Stalin auf grauenhaft neue Weise beantwortet wurde – und der Autor aus all dem keinen Roman mehr zu machen vermochte.
Doch bleibt, neben zahlreichen anderen Büchern, die Daniel Kehlmann klug und kurzweilig nacherzählt und analysiert, vor allem der Prag-Roman Nachts unter der steinernen Brücke, an dem Perutz im Exil über acht Jahre schrieb und den sein Hausverlag Zsolnay 1953 ablehnte – aufgrund der »jüdischen Thematik«, wegen der man beim Publikum »Widerstände« vermutete.
»Musterbeispiel verlegerischer Wiedergutmachung«
Daniel Kehlmann, dessen Vater Michael Kehlmann als seinerzeit bekannter österreichischer Theater- und Fernsehregisseur sich bereits in den 90er-Jahren an einer Leo-Perutz-Renaissance versucht hatte, berichtet von dieser Schuftigkeit der einstigen Nazi-Mitläufer – und weist dann umso erfreuter darauf hin, dass inzwischen bei Zsolnay alle Perutz-Romane in formidabler Edierung wieder vorliegen; »ein Musterbeispiel verlegerischer Wiedergutmachung«.
Und jener Prag-Roman, in dem in 14 abgeschlossenen Geschichten vom Rabbi Loew, vom jüdischen Ghetto und dem Alchimisten-Kaiser Rudolf oben auf der Burg erzählt wird? Wollte man ein neumodisches Label vergeben: schönste Nacherzählung ever.
Denn mit welcher Freude am Detail – ohne sich darin zu verlieren – zeigt Kehlmann hier Verbindungslinien auf, macht Perutzʼ »Kunst der mehrdeutigen Dramaturgie« sinnfällig, führt wie ein guter, respektvoller Cicerone Schritt für Schritt ins Labyrinth dieses Meisterwerks. Und lässt uns dann auch an der grausamen Entdeckung teilhaben, dass die vermeintlich romantische Traumesliebe zwischen dem melancholischen Kaiser und der schönen Esther im Grunde eine Vergewaltigung war und entstanden aus der Erpressung, die Juden aus Prag zu vertreiben.
Und jener unbekannte Künstler in der Altstadt, der so genaue Porträts zu zeichnen vermochte? Verschwand aus dieser Geschichte wie Leo Perutz späterhin aus der Literaturgeschichte. Jetzt aber ist er wieder da, und auch dafür ist Daniel Kehlmann gar nicht genug zu danken.
Daniel Kehlmann: »Über Leo Perutz«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 105 S., 20 €