Finale

Der Rest der Welt

Die Tage werden kürzer, und selbst die Plakate zur Bundestagswahl erscheinen in den letzten Augusttagen in einem weicheren Licht. Irgendwie macht mich die Jahreszeit sentimental. Alle sagen, der Monat Elul sei der Monat der Liebe zu den Mitmenschen.

Aber manche alten Freunde rufen seit Wochen nicht zurück. Sind sie irritiert, weil ich keinem politischen Lager mehr zuzuordnen bin? Früher wusste ich immer, wo ich mein Kreuz machen wollte. Erst mit 39 bin ich Wechselwählerin geworden. Vielleicht habe ich deshalb noch keine einzige E-Card zu Rosch Haschana bekommen.

Würde ich in Israel wohnen, wäre alles anders. Keiner würde alte Beziehungen infrage stellen, weil der eine Freund Yair Lapid, der zweite Naftali Bennett und der dritte Meretz wählt. Könnten Sie sich die Ehe von Ehud Olmert (Ex-Likud, heute Kadima) und seiner Frau Aliza, der Friedensaktivistin, in Deutschland vorstellen? Ich nicht. »Der Feind in ihrem Bett!«, würde an Mauern in Kreuzberg stehen. In Bremen würde man das Paar mit Pfefferspray und Reizgas empfangen. Und wahrscheinlich würde irgendein Autonomer bald die gemeinsame Matratze abfackeln.

SPD-Ortsverein Als ich zehn Jahre alt war, war alles einfacher. 1980, als Franz Josef Strauß Bundeskanzler werden wollte, wusste jedes Kind, das den Elterninitiativkindergarten besucht hatte: Aus Bayern kam der Faschismus! Wehret den Anfängen! Damals war meine Mutter Schriftführerin in einem württembergischen SPD-Ortsverein.

Auch ich wollte mich am Wahlkampf beteiligen. Mit Kreide schrieb ich an die Garagenwand der Nachbarn: »Hier wohnen CDU-Wähler!« Warum meine Mutter mich zwang, die Inschrift zu entfernen, konnte ich nicht verstehen. Warum durfte ich die Fehlentscheidung des politischen Gegners nicht anprangern? Missmutig zog ich den Schwamm aus der Schultasche und raffte mich zur Kehrwoche auf, bevor die Nachbarn die Polizei rufen konnten.

Übrigens hatte ich schon als Siebenjährige Probleme mit Gut und Böse in der Politik. Nach Begins Wahlsieg 1977 machten wir Urlaub in Israel. Als mein Vater, Ex-Kibbuznik, herausfand, dass sein Bruder, Ex-Palmach-Kämpfer, für Begin gestimmt hatte, war er erschüttert. Ich auch.

Lieblingsonkel Warum mein Vater Begin nicht leiden konnte, war mir klar: Begin hatte eine Brille, eine Glatze und sah in der Zeitung grimmig aus. Außerdem hatte mein Vater immer recht. Aber was war mit meinem Lieblingsonkel? Vielleicht konnte man ein guter Mensch sein, auch wenn man die anderen wählte?

Nun möchte ich an dieser Stelle nicht behaupten, der israelische Wahlkampf verliefe immer friedlich. Aber es wäre doch schön, wenn der Monat der Liebe im deutschen Herbst ein bisschen mehr Anklang fände. Friede den Hütten – und auch den Palästen! Sonnenblumen für alle! Und das Wichtigste auf Jiddisch: keine Gevalt!

Premiere

»Übergriffe gegen uns sind mittlerweile Alltag«

Anfeindungen, Behinderungen, Drohungen und Übergriffe: Ein neuer Film dokumentiert die Pressefeindlichkeit bei vielen Pro-Palästina-Demonstrationen in Berlin. Die Journalisten-Union warnt vor den Folgen für die Pressefreiheit hierzulande

von Markus Geiler  28.10.2025

Rotterdam

Unbehagen im Love Lab

Die jüdische Soziologin Eva Illouz ist an der Rotterdamer Erasmus-Universität nicht willkommen. Sie spricht von einer »antisemitischen Entscheidung«, die immerhin demokratisch zustande gekommen sei

von Michael Thaidigsmann  28.10.2025

Berlin

Mascha Kaléko und die Reise ihres Lebens: »Wenn ich eine Wolke wäre«

Elf Jahre nach Kriegsende entdeckte Deutschland seine verlorene Dichterin wieder. Volker Weidermann gelingt ein berührendes Porträt der Lyrikerin

von Sibylle Peine  28.10.2025

Kommentar

Politisches Versagen: Der Israelhasser Benjamin Idriz soll den Thomas-Dehler-Preis erhalten

Wer wie der Imam den 7. Oktober für seine Diffamierung des jüdischen Staates und der jüdischen Gemeinschaft instrumentalisiert, ist eines Preises unwürdig

von Saba Farzan  28.10.2025

Fernsehen

Selbstermächtigung oder Männerfantasie?  

Eine neue Arte-Doku stellt den Skandalroman »Belle de jour« des jüdischen Schriftstellers Joseph Kessel auf den Prüfstand  

von Manfred Riepe  27.10.2025

Stuttgart

»Mitten dabei!«: Jüdische Kulturwochen beginnen

Konzerte, Diskussionen, Lesungen und Begegnungen stehen auf dem vielfältigen Programm

 27.10.2025

Biografie

Vom Suchen und Ankommen

Die Journalistin hat ein Buch über Traumata, Resilienz und jüdische Identität geschrieben. Ein Auszug aus ihrer ungewöhnlichen Entdeckungsreise

von Sarah Cohen-Fantl  26.10.2025

Alina Gromova

»Jedes Museum ist politisch«

Die neue Direktorin des Jüdischen Museums München über ihre Pläne

von Katrin Diehl  26.10.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Herbstkaffee – und auf einmal ist alles so »ejn baʼaja«

von Nicole Dreyfus  26.10.2025