Literatur

Der Kuchen ist immer jüdisch

Dieser Buchstabe ist kurios. Denn das »ы« dürfte sich wohl nur russischen Muttersprachlern erschließen. Daher könnte es vielen schwerfallen, »Mыteinander«, den Titel einer neuen Veranstaltungsreihe des Jüdischen Museums Frankfurt, zu entschlüsseln, geschweige denn richtig auszusprechen.

Museumsdirektorin Mirjam Wenzel war sich dessen bei der Konzeption der neuen Veranstaltungsreihe bewusst: »Die Reihe ist in erster Linie als eine Plattform für Empowerment und Community-Building gedacht, die diejenigen meint, die die ersten Buchstaben dechiffrieren können.« Sie richtet sich also in erster Linie an Juden, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge vor allem in den 90er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen.

»Mich bewegt meine eigene Biografie, mich bewegt Vielfalt.«

Lana Lux

Wenn man weiß, dass das Wort »мы« im Russischen für »Wir« steht, bekommt der Titel der Reihe eine tiefergehende Bedeutung. Welches »Wir« ist da eigentlich gemeint – und welches »Miteinander«? Und wie schlägt sich dieses vermeintlich Verbindende im Schreiben nieder?

Um diese Fragen sollte es nun vergangene Woche gehen, als sich die Schriftstellerinnen Lana Lux, Olga Grjasnowa und Julia Grinberg zu einer digitalen Podiumsdiskussion über die »jüdische (postsowjetische) Gegenwartsliteratur« getroffen haben. Marina B. Neubert moderierte den Abend – und gab gleich zu Beginn den Ton vor, als sie hervorhob, dass es um Schriftstellerinnen geht, »die sich in Deutschland erst einmal neu erfinden, zurechtfinden, finden und ihre Sprache definieren mussten«.

biografien Die Veranstaltung fand coronabedingt auf der Videokonferenzplattform »Zoom« statt, und anders als bei vielen solcher Online-Diskussionen üblich, lieferte der Abend trotzdem einige Erkenntnisse, die über bloßes Empowerment hinausreichten. Geschickt vermied die Moderatorin eine Fixierung auf die biografischen Umstände der in Programmatik und Auftreten denkbar unterschiedlichen Teilnehmerinnen. Denn es war nun einmal keine literarische Selbsthilfegruppe zusammengekommen. Vielmehr ließ Neubert den künstlerischen Eigensinn der Autorinnen zutage treten.

»Ich bin kein Freund vom biografischen Bezug im Werk eines Autors.«

Olga Grjasnowa

»Ich bin kein großer Freund vom biografischen Bezug im Werk eines Autors«, sagte etwa Olga Grjasnowa. Als Autorin sei man einzig damit beschäftigt, von der eigenen Herkunft wegzukommen. Die soziale Herkunft eines Autors hat für sie eine höhere Relevanz: »Ich finde die Klassenfrage viel interessanter.« Mit Der verlorene Sohn hat Grjasnowa unlängst ihren vierten Roman vorgelegt. Er spielt im 19. Jahrhundert während des Kaukasuskrieges, in dem das russische Zarenreich versuchte, Gebiete im Nordkaukasus zu erobern.

»Die Welt war damals in gewisser Weise transkultureller als heute«, betont die 1984 in Aserbaidschan geborene Schriftstellerin. Am russischen Hof habe man Französisch gesprochen, die Architektur sei italienisch und die Opern wiederum italienisch und französisch gewesen. Im Prinzip sei damals – bis auf den Eroberungskrieg – nichts russisch gewesen. »Die Vermischung der Kulturen wurde als etwas Natürliches wahrgenommen«, fasst Grjasnowa ihren Eindruck zusammen.

Die jüdische Herkunft eines Autors, so sieht es Lana Lux, führt häufig dazu, dass es heißt, er oder sie schreibe »jüdische Literatur«. Die 1986 in der Ukraine geborene Schriftstellerin und Schauspielerin veranschaulicht dieses verbreitete Missverständnis äußerst einprägsam: »Wie wenn ich einen Kuchen backe, dann ist es ein jüdischer Kuchen. Es ist egal, was ich backe.« Auch Julia Grinberg fremdelt mit solchen Zuschreibungen: »Ich bezweifle überhaupt, dass Literatur nach nationalen, religiösen oder irgendwelchen Kriterien bestimmt werden muss.«

sprache Stattdessen macht sich Lux für eine Kategorisierung anhand der Sprache stark. Ein französischer Roman sei ein Roman, der auf Französisch geschrieben wurde, sagt sie. Grjasnowa widerspricht: »Beim Roman ist es nicht nur die Sprache, die ihn manifestiert.« Sie verweist auf die wechselseitigen Einflüsse unter den Literaturen. Der deutschsprachige Roman sei ohne die russische Klassik nicht möglich, ebenso der russische nicht ohne die französische Prägung. »Es ist alles immer ein großes Zwiegespräch jenseits der Nationalsprache«, betont Grjasnowa, deren Tochter zwischenzeitlich unvermittelt ins Bild läuft und ihre Mutter in ein Gespräch verwickelt.

»Die Zweisprachigkeit hat mich als Dichterin geboren.«

Julia Grinberg

Dass die Einwanderung in einen anderen Sprachraum produktiv sein kann, hebt Grinberg hervor: »Die Zweisprachigkeit hat mich als Dichterin geboren.« Sie müsse immerfort zwischen zwei Sprachen wandern, und das gefalle ihr. Für Grinberg sind das Deutsche und das Russische eine Art literarische Fundgrube: »Ich nehme mir die Bilder da, wo ich sie vorfinde.« In jeder Sprache sei man eine ganz andere Person, beobachtet die 1970 in der Sowjetunion geborene Lyrikerin.

MeToo Auch Lana Lux ist sich dieser Mehrfachidentität bewusst. 2018 veröffentlichte sie in der Jüdischen Allgemeinen einen Beitrag zu den damals laufenden #MeToo-und #MeTwo-Debatten. Unter der programmatischen Überschrift »Ich bin sehr viele« plädierte sie dafür, all die Länder und Kulturen, die sie – und viele andere – ausmachen, anzuerkennen. »Niemand ist wirklich eins«, schrieb sie. Als Marina B. Neubert sie auf die damalige Motivation zu dem Beitrag anspricht, entgegnet Lux: »Mich bewegte meine eigene Biografie, mich bewegten die Geschichten von vielen FreundInnen, die mit mehreren Sprachen, Kulturen und Wahlheimaten – oder auch ohne – leben.« In ihrer »Bubble« seien solche Leute in der Mehrheit.

Der Abend klang mit Lesungen der Autorinnen aus ihren Werken aus. Entgegen der Erwartung des Veranstalters stellten die Zuschauer keine einzige Frage an Grinberg, Grjasnowa und Lux. »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen« also? Nicht ganz. Stattdessen diskutierten viele Zuschauer in der YouTube-Kommentarspalte munter über individuelle und kollektive Identitäten. Statt der Suche nach einem diffusen »Wir« stand die Vielstimmigkeit im Fokus des »Mыteinander«-Auftakts. Und das ist eigentlich dann doch sehr vielversprechend.

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