Heinrich Heine

Der erste europäische Intellektuelle

Visionär: Heinrich Heine 1797–1857 Foto: dpa

Am 17. Februar 1856 starb in Paris der deutsche Dichter Heinrich Heine, den Friedrich Engels und Nietzsche den größten deutschen Dichter nach Goethe genannt haben. Als Lyriker und Publizist wollte Heinrich Heine wirken, er schrieb Gedichte, Balladen, Dramen – und Essays über Religionsgeschichte, Philosophie und die Romantische Schule. Feinde schuf sich der Düsseldorfer Intellektuelle, der vom jüdischen Glauben zum Protestantismus übergetreten war, vor allem ob seiner scharfsinnigen Analysen deutscher Mentalität und Politik.

Bei all den posthumen Umarmungen, die ihm in den letzten Jahren widerfahren, wird gern vergessen, dass Deutschland und Heine – nicht nur bei Nacht – ein Problem miteinander hatten. Als Schriftsteller war er, vor allem am Beginn seiner Laufbahn, ganz ohne Tradition. Er kannte weder die katholische noch die protestantische Überlieferung. Er hatte keine Erfahrung mit dem Ghetto. Das – und damit die Problematik des Judentums in Deutschland, wird er erst in Frankreich kennenlernen. Später wird er ausrufen: »Wie kann ich aus meiner Haut, die aus Palästina stammt und welche von den Christen gegerbt wird seit achtzehnhundert Jahren!«

antisemitismus Rolf Hosfeld, ein ausgewiesener Heine-Kenner, nennt den Dichter in seiner neuen Biografie »ein europäisches Ereignis«, was sicherlich zutreffend ist. Aber hat sich in Heines Persönlichkeit der europäische Intellektuelle erfunden, wie sein Biograf insinuiert? Heine habe, so Hosfeld, als Erster die Gefahren eines »aufgeklärten« Antisemitismus gesehen. Die Geburtsstunde des politischen Intellektuellen schlug freilich später, ein halbes Jahrhundert nach Heines Tod, in der Dreyfus-Affäre.

Heine war als Dichter und Schriftsteller ein Visionär, dessen viel zitierter Satz »Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen« die Schreckenssignatur des 20. Jahrhunderts paraphrasierte. Ein politischer Intellektueller sui generis wie Ludwig Börne aber ist Heine nie gewesen. Doch hat seine Kunst der geradezu magisch treffenden Kritik so polarisiert wie bei keinem anderen deutschen Dichter. Auch war sein Überblick über die politisch-ästhetisch-intellektuelle Lage eine einmalige Leistung. Heines tour d’horizon über die Denk- und Stilmöglichkeiten seiner Zeit in Frankreich und Deutschland war so pointiert wie kompetent.

ärgernis All dies wird auch in dieser neuen Biografie kenntnisreich dargestellt. Hosfeld ist ein guter Erzähler, was die Lektüre aus dem Rahmen einer rein funktionalen Kommunikation heraushebt. Er macht auch nicht den Fehler wie seinerzeit Fritz J. Raddatz, der sich als Heine redivivus stilisierte und damit Schiffbruch erlitt. Diese Biografie erzählt anschaulich und solide von Heines Leben und Dichten, das von Kritik und Skepsis durchdrungen war. Zeitlebens war dieser Dichter ein Ärgernis in Deutschland und unter den Deutschen.

Seine Verse verrieten »ein Behagen am Koth und die pikante Lust am Unreinen«, so die »Allgemeine Zeitung« am 5. März 1856, einen Monat nach Heines Tod. In seiner Geschichte der deutschen Literatur von 1883 sprach Wilhelm Scherer vom »Schmutz der Reisebilder«. »Man hatte die Masern, man hatte Heine«, spottete Karl Kraus. Adorno sprach von der »Wunde Heine«, weil der Dichter sich als Einziger »einen unverwässerten Begriff von Aufklärung bewahrt« habe. Und Hans Mayer schließlich meinte, Heine sei die »große Ausnahme in der deutschen Literaturgeschichte«, ein »europäisches Ereignis und ein deutscher Skandal«.

tonlage »Oh Deutschland! Land der Eichen und des Stumpfsinns!« Mit dieser Tonlage wurde Heinrich Heine schon zu Lebzeiten zur Hassfigur auch für jene, die im Geheimen ähnlichen Gedanken anhingen wie er. So entstanden Bilder von zweifelhafter Berühmtheit. Heine – ein Name, der für Oberflächlichkeit und bloße Intellektualität steht. Die Nazis haben den »Judendichter« und »Deutschenhasser« begreiflicherweise aus ihren Schulbüchern herausgenommen. Einige Gedichte, etwa die Loreley, wurden als Volkslied weiter geduldet, freilich mit dem Zusatz: »Dichter unbekannt«.

Rolf Hosfelds Schlussbemerkung in seiner Biografie kommt einer Apotheose gleich: Heine sei langsam vor sich hingestorben »wie vor ihm zuletzt kultivierte Intellektuelle des Rokoko, bis ans Ende lebensbejahend«.

Rolf Hosfeld: »Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen«. Siedler, Berlin 2014, 512 S., 24,99 €

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025